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Recht & Verwaltung10 Juni, 2024

Eine Auseinandersetzung mit den neuen Regelungen zu Leistungsminderungen durch die Jobcenter bei beharrlicher Arbeitsverweigerung - Teil 1

Alexander Lahne, Leiter des Sachgebietes »Recht im SGB II« Landratsamt München

Unser Experte beschreibt seine persönliche Einschätzung des Themas.

Das Bundesverfassungsgericht stellte im November 2019 klar, dass es vertretbar sei, bei Leistungsbezügen nach dem SGB II in deutlichen Fällen von Arbeitsverweigerung besonders harte Leistungsminderungen zu verhängen. Mehr als vier Jahre später hat der Gesetzgeber nun Regelungen geschaffen, die es den Jobcentern ermöglichen, in entsprechenden Sachverhalten durchzugreifen. Leider sind diese neuen Vorschriften weder durchdacht noch praktikabel. Der Blick in ein Nachbarland zeigt: Man hätte es besser machen können.Nun kann man es wirklich nicht mehr anders sagen: Es ist gerade ganz schön viel Unruhe drin in diesem Thema, in diesen Leistungsminderungen, wie sie jetzt heißen.

»Sanktionen«, so der frühere Name, inoffiziell vielleicht immer noch. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 05.11.2019 (1 BvL 7/16) zur Verfassungsmäßigkeit dieser Leistungskürzungen ging es los, „Deckelung“, „Härtefall“ und „Wohlverhalten“ waren die Schlagworte. Eine Weile war Ruhe, bis das Sanktionsmoratorium, das Aussetzen der Minderungen, auftauchte und schneller wieder verschwunden war, als man glauben konnte. Dann kam das Bürgergeld, mit ihm die Kooperationspläne und eine Neufassung der gesetzlichen Regelungen zu den Leistungsminderungen, die auch die Gedanken des Bundesverfassungsgerichtes vom November 2019 aufgriff.

Ende März 2024 – so recht kann man den Richtungswechsel nicht fassen – traten schließlich Sonderregelungen in Kraft, welche im Bezug von Bürgergeld stehende Personen, die sich einem Arbeitsantritt verweigern, härter treffen sollen als derzeit festgeschrieben: So soll das Bürgergeld für bis zu zwei Monate in Höhe von 100% des entsprechenden Regelbedarfes gekürzt werden können, wobei eine Streichung oder Kürzung der Kosten der Unterkunft und Heizung sowie etwaiger Mehrbedarfe nach § 21 SGB II nicht statthaft ist (vgl. BT-DS 20/9999, S. 22). Diese Neuregelung soll zunächst bis zum 27.03.2026 – also 2 Jahre lang – gelten.

Bei gründlicher Lektüre des oben erwähnten Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 05.11.2019 erkennt man, dass der Gedanke derartiger „Supersanktionen“ nicht erst in letzter Zeit aufkam. So stellte man in Karlsruhe schon seinerzeit klar, dass auch „ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen“ sei in Fällen, in denen eine Erwerbstätigkeit „willentlich verweigert“ wird (vgl. BVerfG, Urt. v. 05.11.2019, 1 BvL 7/16, Rdn. 209; sh. zur Thematik auch Hoenig/Lahne, „Eine Umgestaltung im SGB II: Von ‚Sanktionen‘ zu ‚Leistungsminderungen‘“, in: ZFSH/SGB 4/2023, S. 195 ff.).

Ein Blick nach Österreich – genauer: nach Oberösterreich, denn das Sozialrecht ist bei den südlichen Nachbarn Ländersache – zeigt, wie eine griffige Rechtsnorm hierzu aussehen könnte. So lautet § 19 Abs. 3 des Oberösterreichischen Sozialhilfe-Ausführungsgesetzes (Oö. SOHAG) wie folgt:
Sofern bei einer bezugsberechtigten Person, deren Leistungen der Sozialhilfe nach Abs. 1 bereits für die Dauer von drei Monaten um 50 % des jeweils anzuwendenden Richtsatzes gemäß Abs. 6 gekürzt wurden, weiterhin keine Bereitschaft zu einem zumutbaren Einsatz der Arbeitskraft oder der Überwindung einer eingeschränkten Vermittelbarkeit am österreichischen Arbeitsmarkt besteht, sind die Leistungen der Sozialhilfe gänzlich einzustellen.*

Derartig erfrischend klare Regelungen sucht man im deutschen SGB II leider vergeblich. Hier - in § 31a Abs. 7 - heißt es stattdessen nun:
Abweichend von Absatz 4 Satz 1 entfällt der Leistungsanspruch in Höhe des Regelbedarfes, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte, deren Bürgergeld wegen einer Pflichtverletzung nach § 31 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2, Absatz 2 Nummer 3 oder Absatz 2 Nummer 4 innerhalb des letzten Jahres gemindert war, eine zumutbare Arbeit nicht aufnehmen. Die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme muss tatsächlich und unmittelbar bestehen und willentlich verweigert werden. Absatz 1 Satz 6, die Absätze 2 und 3 sowie § 31 Absatz 1 Satz 2 finden Anwendung.

Und weiter geht es in § 31b Abs. 3 SGB II:
In den Fällen des § 31a Absatz 7 wird die Minderung aufgehoben, wenn die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme nicht mehr besteht, spätestens aber mit dem Ablauf eines Zeitraums von zwei Monaten. Absatz 1 Satz 1 und 3 sowie Absatz 2 Satz 2 sind entsprechend anzuwenden.

Insbesondere vier Punkte sind es, welche Fragen aufwerfen, nämlich:

  • die Art der Leistungsminderung, die vorangegangen sein muss,
  • die im Vergleich zu den üblichen „wiederholten Pflichtverletzungen“, abweichende Zählwirkung, also der Zeitrahmen, in welchem eine Verschärfung greift,
  • das Ende der Minderung bei Wegfall der Möglichkeit der Besetzung der konkret angebotenen Stelle,
  • die Qualität des »totalverweigernden« Verhaltens bzw. der entsprechende Lebenssachverhalt.

1.) Die vorangegangene Leistungsminderung

Um eine Leistungsminderung wegen »Totalverweigerung« verhängen zu dürfen, braucht es zunächst eine zuvor festgestellte Minderung nach einer der in § 31a Abs. 7 Satz 1 SGB II genannten Vorschriften, somit

  • entweder wegen der Weigerung, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung oder ein nach § 16e SGB II gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen oder fortzuführen bzw. wegen der Verhinderung der Anbahnung eines solchen Verhältnisses (= § 31 Abs. 1 Satz 1 Nummer 2 SGB II),
  • wegen einer Leistungsminderung nach dem SGB II, die an eine Sperrzeit nach dem SGB III gekoppelt wird (= § 31 Abs. 2 Nummer 3 SGB II - Stichwort: Aufstocker) oder
  • wegen einer Leistungsminderung nach dem SGB II, welche sich an einem Sperrzeittatbestand des SGB III orientiert, ohne dass ein Leistungsbezug nach dem SGB III gegeben ist (= § 31 Abs. 2 Nummer 4 SGB II: »fiktive Sperrzeit«).

Allein dieser kleine Katalog bereitet Unbehagen: Was beispielsweise ist mit einer Leistungsminderung nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nummer 1 SGB II wegen des Nichtbefolgens einer »Aufforderung mit Rechtsfolgenbelehrung« nach § 15 Abs. 5 Satz 2 SGB II? So kann in einem Kooperationsplan (der Katalog zu den Inhalten in § 15 Abs. 2 Satz 2 SGB II wird mit dem Wort „insbesondere“ eingeleitet und kann schon deshalb nicht abschließend sein) auch das Wahrnehmen von Vorstellungsgesprächen auf (spätere und konkretisierende) Vermittlungsvorschläge des Jobcenters hin vereinbart werden (vgl. Fachliche Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 15 SGB II, Stand: 01.07.2023, Rz. 15.26 und 15.30).

Wird gegen eine solche Absprache verstoßen, käme eine Aufforderung mit Rechtsfolgenbelehrung zum Zuge, welche bei Nichtbefolgung zu einer Leistungsminderung nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nummer 1 SGB II führen kann. Genau dieses Fehlverhalten würde grundsätzlich auch den Anwendungsbereich des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nummer 2 SGB II eröffnen (vgl. Hahn in: Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl. 2024, § 31, Rdn. 49) – aber eben nicht nur diesen. Wenn im Falle des hier dargestellten Fehlverhaltens, dem Nichtbefolgen eines Vermittlungsvorschlages, also über den Bogen einer Aufforderung mit Rechtsfolgenbelehrung eine Leistungsminderung nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nummer 1 SGB II verhängt wird, läge gar keine nach § 31a Abs. 7 Satz 1 SGB II geforderte Vorgeschichte nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nummer 2 SGB II vor, dies bei letztendlich gleichem Fehlverhalten. Ratsam ist es daher seit jeher, in Bescheiden, die eine Leistungsminderung feststellen, sämtliche in Betracht kommenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen zu benennen. Andererseits muss nicht jedes Fehlverhalten, das unter § 31 Abs. 1 Satz 1 Nummer 2 SGB II fällt, so schwerwiegend sein wie ein Ignorieren eines Vermittlungsvorschlages.

So kann ein »vertragshinderndes Erscheinungsbild« bei einem Vorstellungsgespräch diesen Tatbestand erfüllen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 24.06.2013 – L 5 AS 323/13 B ER). Dann hat man sich jedoch zumindest schon einmal die Mühe gemacht, vor Ort zu erscheinen. Darüber hinaus können auch Leistungsminderungstatbestände des § 31 Abs. 2 Nummern 3 und 4 SGB II, welche § 31a Abs. 7 Satz 1 SGB II pauschal als Vorgeschichten gelten lässt, Lebenssachverhalte aufgreifen, die weniger schwer wiegen. Beispiel: Ein Meldeversäumnis beim SGB-III-Träger, welches gem. § 31a Abs. 1 Satz 7 SGB II zwar nur mit den Rechtsfolgen des § 32 SGB II (stets 1 Monat Leistungsminderung in Höhe von 10 % des Regelbedarfes) geahndet werden kann, grundsätzlich aber eben unter den in § 31a Abs. 7 Satz 1 SGB II bemühten »§ 31 Abs. 2 Nummer 3 SGB II« fällt. Irritierend ist auch, dass die vorherige Leistungsminderung selbst keine »neuartige« nach § 31b Abs. 7 Satz 1 SGB II sein darf, denn diese Norm taucht im dortigen Katalog tauglicher Vorgeschichten nicht auf. Im Falle einer wiederholten Arbeitsverweigerung im engsten Sinne, also da, wo er am angebrachtesten wäre, soll der neue Mechanismus also gar nicht greifen (vgl. hierzu auch Fachliche Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu §§ 31, 31a, 31b SGB II, Stand: 28.03.2024, Rz. 31.46b).

Fazit an dieser Stelle:

Der pauschale Verweis auf drei gesetzliche Leistungsminderungstatbestände, der sich in § 31a Abs. 7 Satz 1 SGB II findet, ist kontraproduktiv, zumal die verschärften Leistungsminderungen nach dem SGB II eine „wiederholte Arbeitsverweigerung“ voraussetzen (vgl. BT-DS 20/9999, S. 22). Dass eine der enumerativ aufgezählten Normen einschlägig ist, bedeutet aber eben nicht automatisch, dass dann immer auch eine (erste) Arbeitsverweigerung vorliegt. Eine Vorschrift nach oberösterreichischem Vorbild wäre hier weitaus praktikabler gewesen.

*Die oberösterreichische »Sozialhilfe« ist als Pendant zum deutschen Bürgergeld zu sehen, setzt eine Erwerbs- bzw. Arbeitsfähigkeit also voraus (vgl. § 12 Abs. 3 Nummer 1 Oö. SOHAG zum »Einsatz der eigenen Arbeitskraft«, welche von »arbeitsunfähigen« Personen nicht verlangt werden kann).

Anmerkung der Redaktion: 

Dies ist Teil 1 des Beitrags »Eine Auseinandersetzung mit den neuen Regelungen zu Leistungsminderungen durch die Jobcenter bei beharrlicher Arbeitsverweigerung«. Den zweiten Teil des Beitrags finden Sie hier.

Autor

Alexander Lahne

Alexander Lahne ist Leiter des Sachgebiets „Recht im SGB II“ in einem großen bayerischen Jobcenter und hat langjährige Erfahrung im Bereich der Widerspruchs- und Klagebearbeitung auf diesem Rechtsgebiet gesammelt. Außerdem ist er Autor und Mitautor einschlägiger Fachliteratur wie z.B. zum Thema Potenzialanalyse in eGovPraxis Jobcenter.

Nebenberuflich ist er als Referent tätig und bietet ganztägige Seminare zu verschiedenen Themen aus den Bereichen SGB II und SGB X an: https://lahne-rechtsseminare.de/


Bildnachweis: artrachen/stock.adobe.com
Alexander Lahne
Leiter des Sachgebiets „Recht im SGB II“ im Landratsamt München
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