Hinweispflicht trotz Arbeitsunfähigkeit
Recht & Verwaltung17 Januar, 2023

BAG: Hinweispflicht des Arbeitgebers vor Verfall von Urlaub trotz Arbeitsunfähigkeit?

Torsten Herbert, Rechtsanwalt und Geschäftsführer des kommunalen Arbeitgeberverbands NRW

Das BAG klärt, dass Arbeitgeber ihre Mitwirkungsobliegenheit auch dann zu erfüllen haben, wenn erst im Laufe des Urlaubsjahres die Arbeitsunfähigkeit eintritt.

Wie wirkt sich die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers auf die Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitsgebers bei der Gewährung und Inanspruchnahme von Urlaub aus?

Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger ist bei der beklagten Flughafengesellschaft als Frachtfahrer im Geschäftsbereich Bodenverkehrsdienste beschäftigt. In der Zeit vom 01.12.2014 bis mindestens August 2019 konnte er wegen voller Erwerbsminderung aus gesundheitlichen Gründen seine Arbeitsleistung nicht erbringen und deshalb seinen Urlaub nicht nehmen

Mit seiner Klage hat er u.a. geltend gemacht, ihm stehe noch Resturlaub aus 2014 zu. Dieser sei nicht verfallen, weil die Beklagte ihren Obliegenheiten, an der Gewährung und Inanspruchnahme von Urlaub mitzuwirken, nicht nachgekommen sei.

ArbG und LAG haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers, die wegen streitiger Urlaubsansprüche aus weiteren Jahren aus prozessualen Gründen zurückzuweisen war, hatte hinsichtlich des Resturlaubs aus dem Jahr 2014 überwiegend Erfolg.

BAG entscheidet: Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer rechtzeitig vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in die Lage versetzen, Urlaub zu nehmen

Das BAG hat mit dem vorliegenden Urteil unter Zugrundelegung der entsprechenden Rechtsgrundsätze die Rechtsache - 9 AZR 401/19 - entschieden, die auf Ersuchen des Senats vom 07.07.2020 ebenfalls Gegenstand der Vorabentscheidung des EuGH vom 22.09.2022 (C-518/20 und C-727/20 – [Fraport]) war.

Grundsätzlich erlöschen Urlaubsansprüche nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG), wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor durch Erfüllung sog. Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.

Besonderheiten bestehen, wenn der Arbeitnehmer seinen Urlaub aus gesundheitlichen Gründen nicht nehmen konnte. Nach bisheriger Senatsrechtsprechung gingen die gesetzlichen Urlaubsansprüche in einem solchen Fall – bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit – ohne weiteres mit Ablauf des 31. März des zweiten Folgejahres unter („15-Monatsfrist“).

Diese Rechtsprechung hat der Senat in Umsetzung der Vorgaben des EuGH nunmehr weiterentwickelt:

  • Danach verfällt weiterhin der Urlaubsanspruch mit Ablauf der 15-Monatsfrist, wenn der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert war, seinen Urlaub anzutreten. Für diesen Fall kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist, weil diese nicht zur Inanspruchnahme des Urlaubs hätten beitragen können.

  • Anders verhält es sich jedoch, wenn der Arbeitnehmer – wie vorliegend der Kläger – im Urlaubsjahr tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder krankheitsbedingt arbeitsunfähig geworden ist. In dieser Fallkonstellation setzt die Befristung des Urlaubsanspruchs regelmäßig voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub auch tatsächlich zu nehmen.

Der für das Jahr 2014 im Umfang von 24 Arbeitstagen noch nicht erfüllte Urlaubsanspruch konnte danach nicht allein deshalb mit Ablauf des 31. März 2016 erlöschen, weil der Kläger nach Eintritt seiner vollen Erwerbsminderung mindestens bis August 2019 aus gesundheitlichen Gründen außerstande war, seinen Urlaub anzutreten. Der Resturlaub blieb ihm für 2014 vielmehr erhalten, weil die Beklagte ihren Mitwirkungsobliegenheiten bis zum 1. Dezember 2014 nicht nachgekommen ist, obwohl ihr dies möglich war.

(Quelle: Pressemitteilung 47/22 des BAG vom 20.12.2022)

Praktische Bedeutung der Entscheidung des BAG vom 20.12.2022 – 9 AZR 245/19 –

Erwartungsgemäß ist das BAG mit dem vorliegenden Urteil dem EuGH gefolgt. Arbeitgeber haben danach also ihre Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer auch dann zu erfüllen, wenn dieser im Laufe eines Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankt bzw. das Arbeitsverhältnis infolge Gewährung einer Erwerbsminderungsrente ruht.

In praktischer Hinsicht stellt sich allerdings die wohl berechtigte Frage, zu welchem Zeitpunkt der Arbeitgeber dies tun sollte.

Klar ist, dass Arbeitnehmer zu Beginn des Urlaubsjahres entsprechend zu unterrichten sind.

Da allerdings dann gegen Ende des Urlaubsjahres erneut – so spät wie möglich und so früh wie nötig (damit die verbliebenen Urlaubsansprüche noch vollständig in Anspruch genommen werden können) – eine entsprechende Unterrichtung zu erfolgen hat und der Arbeitgeber schlechterdings nicht wissen kann, ob und wann Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen Urlaub durchgehend bis zum Ende des Urlaubsjahres nicht mehr in Anspruch nehmen können, stellt sich die Frage, ob der Arbeitgeber vorsorglich jedenfalls Monat für Monat für sämtliche Arbeitnehmer eine entsprechende Unterrichtung vornehmen sollte, um sich ggf. später auf den Verfall der Urlaubsansprüche berufen zu können.

Die weitere Entwicklung der Rechtsprechung bleibt abzuwarten.  

Torsten Herbert

Torsten Herbert

Rechtsanwalt und Geschäftsführer des kommunalen Arbeitgeberverbands NRW. Er führt Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht und ist Chief Editor und Autor der eGovPraxis Personal.
Bildnachweis: fizkes/stock.adobe.com
Back To Top