Über Krisen und Krisenmanagement im Zeitalter der Pandemie
Bis zum 17. Jahrhundert kannte niemand einen schwarzen Schwan. Deswegen war man sich einig: schwarze Schwäne gibt es nicht. Heute gilt der „schwarzer Schwan“ als Synonym für ein selten auftretendes und daher nicht vorhersehbares Ereignis, für das es keine Verhaltensvorbilder gibt. Weil diese fehlen, stürzen wir als Betroffene häufig in eine Krise, reagieren gar nicht oder vielleicht sogar panisch.
Ein kleiner Virus stürzte im März 2020 die ganze Welt in eine (vermeintlich) unvorhersehbare Krise und veranlasste viele Menschen zu Hamsterkäufen und Politiker zu (vor-)schnellen Entscheidungen: Kitas und Schulen wurden geschlossen, obwohl noch niemand wusste, wie sich das Virus verbreitet und wer die Treiber der Pandemie sind. Folge: ein Shutdown.
„Die Folgen des Corona-Virus sind entsprechend einfach: Das Virus trifft die Gesellschaften, Regierungen, Institutionen, Unternehmen und letztlich jeden einzelnen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ein einziger schwarzer Schwan hat zu einer weltweiten Krise geführt, deren Auswirkungen nicht abgeschätzt werden können. […] Von einer Vielzahl individueller Krisen aufgrund von Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, Insolvenzen, häuslicher Gewalt etc. gar nicht zu sprechen. Die Gesellschaften im In- und Ausland, aber auch ihre Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft wirken von dieser Situation vollkommen überrascht“. (https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/krisenmanagement-im-21-jahrhundert/projektnachrichten/corona-und-die-folgen)
Auch der Trend-, Zukunftsforscher und Publizist Matthias Horx weist in einem Interview der Lübecker Nachrichten darauf hin, dass die Pandemie keinesfalls unvorhersehbar war. „Die deutsche Bundesregierung hat sogar Übungen veranstaltet, in denen eine Seuche schon Jahre zuvor simuliert wurde. Eine weltweite Epidemie stand bei allen Risikoforschern ganz oben auf der Liste. Man wusste, dass das früher oder später kommen würde. Aber natürlich konnte man nicht wissen, wann genau und wie“. (Horx, Matthias, 2021: Lübecker Nachrichten S. 23)
„Wie sehr der schwarze Schwan „Corona-Virus“ denkbar gewesen ist, zeigt, dass bereits 2003 mit SARS-CoV und 2012 mit MERS-CoV zwei Viren für Verursacher von schweren akuten Atemwegssyndromen aufgetreten sind, die zwar zu wachsender Besorgnis geführt haben, aber die WHO nicht zur Feststellung einer gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite veranlasst haben. Aus heutiger Sicht scheint man damals nur knapp einer ähnlichen Katastrophe entgangen zu sein. Insofern scheint das nun ausgerufene Postulat des Gesundheitsschutzes zumindest in der Retrospektive fragwürdig. Am Rande bliebe dann die Notiz, dass sich neben Ethikern auch andere Personen mit der Frage auseinandersetzen müssten, ob ein solches Dogma nur zu bestimmten Zeiten Gültigkeit besitzt“. Hier weiterlesen
Die Krise zeigt die Schwächen des Systems Kita
Der schwarze Schwan hat uns überrumpelt und Eltern, Pädagog*innen und Träger zu Getriebenen gemacht. Im Februar 2020 gab es noch keinen Krisenfahrplan und die Kommunikation zwischen allen Beteiligten ließ zu wünschen übrig. Häufig war diese Zeit auch geprägt von sich selbsterfüllenden und zerstörerischen Prophezeiungen.
Es gab und gibt keine einheitlichen Inanspruchnahmequoten, Öffnungs-Lockdown- und Notbetreuungsregelungen sind nicht bundeseinheitlich geregelt. Von Seiten der Politik werden Versprechungen gemacht und z.T. nicht eingehalten, Wissenschaftler widersprechen sich.
Auch der Einsatz des pädagogischen Personals gestaltete sich problematisch. Ein steigender Anteil des Personals konnte nicht mehr, bzw. nur eingeschränkt eingesetzt werden. Das zeigte sich in besonderem Maße während der zweiten Welle. Pandemiebedingte Sorgen, Ängste, Unwissenheit konnten scheinbar nicht ausgeräumt werden. Kita-Arbeit unter Pandemiebedingungen – so scheint es – obliegt der Macht des Zufalls.
Statt strategisch und vorausplanend zu handeln (spätestens im Rahmen nach der ersten Welle) wurde stets reagiert und auf Entscheidungen von „höchster Ebene“ gewartet. Selbstverständlich ist es nicht möglich, sich auf jede nur denkbare Situation in den Vorwegen einzustellen und Krisenfahrpläne zu entwickeln. Dennoch hätten Pädagog*innen, Leitungen und Träger zeitiger auf die Bedrohung reagieren und Eigeninitiative ergreifen können. Das haben natürlich auch viele Einrichtungen getan. Es wurde schnell festgestellt, dass Kinder durchaus gut mit den Hygieneregeln umgehen und sie befolgen können. Es wurden in vielen Einrichtungen, auch unter Elternbeteiligung, fantasievolle Lösungen gefunden und in einer Kita in Pulheim bei Köln hat man sich angesehen, wie bei Großveranstaltungen Hygienemaßnahmen umgesetzt wurden und diese für die eigene Einrichtung adaptiert.
Jedoch führten Angst, Panik und Nichtwissen zu panischen Entscheidungen die auch aufgrund mangelnder Kommunikation, den Eltern nicht vermittelt werden konnten. Bisher musste man sich mit zeitlich begrenzten Problemen auseinandersetzen und eher schwierige Einzelprobleme managen. Auf ein Problem wie die Pandemie war man nicht vorbereitet. Selbst bei Ministerin Giffey hieß es zunächst: Keine Kita muss schließen. Kurze Zeit später wurden die Kitas dann doch geschlossen.
Behördliche Informationen wurden von täglichen Medienberichten überholt und begleitet von den Sorgen, die sich Pädagog*innen um die Kinder, die Eltern, die eigene Familie und die eigene Gesundheit machten und immer noch machen.
Krisen lösen ein Dilemma aus
Zu Beginn der Pandemie haben wir wahrscheinlich alle geglaubt, dass der „Spuk“ in zwei, drei Monaten vorbei sei. Man muss nur abwarten, die Ruhe und einen kühlen Kopf bewahren, bis ein Silberstreif am Horizont zu sehen ist. Der zeigte sich jedoch nicht.
Insbesondere „Träger und Leitungen von Kitas stehen vor besonderen Dilemma-Situationen. Gesundheitsschutz für Kinder und Mitarbeiter*innen sind mit dem Bildungsrecht der Kinder und der Betreuungsnotwendigkeit von Eltern abzuwägen. Es sind Entscheidungen zu treffen, deren Auswirkungen und Folgen nur rudimentär bedacht werden können. Was hilft den betroffenen Führungskräften, Trägern und Leitungen, in einer solchen Krisensituation professionell ihre Aufgaben zu erfüllen und selbst gesund zu bleiben?“ […] In Krisensituationen lasten auf Führungskräften Unsicherheit und Erfolgsdruck. Alle Betroffenen sind mit großer inhaltlicher Komplexität und hoher Emotionalität konfrontiert. Trotz eigener Betroffenheit und Unsicherheit müssen Führungskräfte in Krisen das erhöhte Sicherheitsbedürfnis der Mitarbeiter*innen auffangen – eine anspruchsvolle Gemengelage, die die Führungskräfte bewältigen müssen. Hier lesen: Gebhardt, von Ameln, 2018, S. 75
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen sich von einem Tag auf den anderen auf eine neue Situation einstellen, die sich auch noch von Tag zu Tag ändert. Sie stellen sich auf Notbetreuung ein (ohne klar zu wissen, wer Anspruch auf die Notbetreuung hat. Wer kann schon nachvollziehen, dass eine Steuerfachangestellte systemrelevant ist?), separieren ein paar Tage später Kinder in kleine Gruppen, machen Homeoffice und „vergessen“ ihre konzeptionellen Ansprüche. Bei all dem bleibt die gesundheitliche Gefährdungssituation unklar.
Kitaleitungen stehen plötzlich zwischen mehreren Fronten: Sie müssen restriktive Vorgaben des Trägers erfüllen und sie gegenüber den Kolleg*innen durchsetzen. Sie müssen (gegensätzliche) Elternwünsche erfüllen und für die eigene Einrichtung „passgenaue“ Lösungen finden. Das alles unter erschwerten Bedingungen, weil auch Erzieher*innen zunehmend positiv getestet werden und nicht mehr einsetzbar sind. Das führt bei manchen Pädagog*innen zu Niedergeschlagenheit, Kurschlusshandlungen und depressiven Reaktionen. Deswegen gilt es zunächst, sich der eigenen Situation bewusst zu werden.
Leitungskräfte reflektieren ihr Stressverhalten in der Krisensituation
Eine präventive Krisenmaßnahme ist es, sich des eigenen Verhaltens in der Krisensituation bewusst zu werden und gleichzeitig zu akzeptieren, dass auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ähnlichen Unsicherheiten und Ängsten konfrontiert sind und damit umgehen müssen. Und selbst wenn es in der Krisensituation gefühlsmäßig unangemessen erscheint, sollte die Krise durch Supervision und Coaching begleitet werden. Die Leitungskraft muss ihre eigene Situation klären und auch in der kollegialen Beratung offen über Unsicherheiten, Ängste, Unklarheiten, Widersprüche, das Gefühl allein gelassen zu werden, sprechen. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen brauchen gerade auch in dieser Situation Rückzugsmöglichkeiten, Beratung und Ermutigung.
In der kollegialen Beratung sollte die Krisensituation klar analysiert werden:
- Was ist bisher gut gelaufen? Was kann und muss in krisenfreien Zeiten hinein „gerettet“ werden?
- Wo lagen Überforderungen? Wie sind sie zu vermeiden?
- Wie sind wir mit widersprüchlichen Botschaften umgegangen?
- Wie ist es uns gelungen, offen mit Eltern, Trägern, Gesundheitsamt, etc. zu kommunizieren?
- Wie haben wir den Handlungsdruck bewältigt? Wer hat Druck gemacht, wie ist das in Zukunft zu verhindern?
- Welche professionellen Hilfen haben wir angenommen, auf welche werden wir in Zukunft zurückgreifen?
- Wie kommunizieren wir mit den Kindern? (Wie informieren wir sie, wie beziehen wir sie ein?)
- Wie gestalten wir die Rückkehr in den Normalbetrieb?
Lehren für das Krisenmanagement
Auch in krisenfreien Zeiten sollten Teams in Besprechungen Krisenszenarien erörtern und Planspiele dazu durchführen. Das ist mit dem Einholen von Expertenwissen verbunden. Auch fachfremdes Wissen kann hilfreich sein.
Dabei ist es wichtig zu akzeptieren, dass wir nicht alle Teilaspekte eines Problems erfassen können, dass wir nie etwas wirklich wissen und dieses Wissen immer Bestand hat. Leitungskräfte sollten sich ihrer Rolle als Krisenmanager*in bewusst sein und sich klarmachen, was das bedeutet. Die Leitung muss die Kommunikation zwischen allen zur Kita gehörenden Personengruppen sichern, ihr Führungshandeln transparent machen, einen Krisenstab bilden, bzw. eine Steuerungsgruppe „Krisenmanagement“ einrichten
Fazit
Es ist unmöglich, sich auf alle möglichen Krisensituationen einzustellen. Aber es ist vorhersehbar, dass Krisen auftreten können. Da macht es Sinn, im Vorwege zu klären, wer im Falle einer Krise welche Aufgaben übernimmt und wer für welche Bereiche die Verantwortung trägt. Alle Aktivitäten, die helfen, eine Krise schnellst- und bestmöglich zu bewältigen, müssen geklärt werden. Das kann Leitung nicht alleine bewältigen. Eine Krisensteuerungsgruppe kann vorausschauende Lösungsstrategien entwickeln und kompetente Kommunikation sichern. Mit Optimismus und Engagement sind auch schwere Krisen zu bewältigen.
Weitere Informationen
Welche Rolle die Kindertagesbetreuung bei der Ausbreitung von SARS-CoV-2 spielt erforscht das Deutsche Jugendinstitut (DJI) und das Robert Koch-Institut (RKI) mit der Corona-KiTa-Studie. Das Bundesfamilienministerium und das Bundesgesundheitsministerium finanzieren die Studie.
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