Prof. Dr. Wolfgang Spellbrink, Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht a.D.
Das „neue“ Bürgergeld weist einige Berührungspunkte mit der Diskussion um ein garantiertes Grundeinkommen auf. Die Idee eines garantierten Grundeinkommens ist ein ständiger Wiedergänger der sozialpolitischen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch international und historisch.Die Literatur zum Grundeinkommen füllt Bibliotheken und die Anhängerschaft weist ein extrem weites politisches Spektrum auf, von Radikalliberalen über erfolgreiche Geschäftsleute wie den DM-Gründer Götz Werner („1000 Euro für jeden“), von Papst Franziskus bis hin zu dem allgegenwärtigen Philosophen Richard David Precht, dessen Buch „Freiheit für alle“ 2022 auf den Beststellerlisten stand (hierzu Spellbrink, NZS 2022, 561). Unabhängig von den Ausprägungen im Detail und den unterschiedlichsten normativen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen weisen alle Ansätze eines garantierten Grundeinkommens die folgenden Gemeinsamkeiten auf:
Die Gemeinsamkeiten der Ansätze zum garantierten Grundeinkommen
- Jeder Bürger des Gemeinwesens erhält einen bestimmten Grundbetrag ausbezahlt, der grundsätzlich für alle Beteiligten gleich hoch ist. Manche Modelle differenzieren noch nach Altersgruppen (Kinder erhalten weniger; Senioren mehr) – manche wollen nur pro Bürger einmalig einen hohen Gesamtbetrag auszahlen – aber zumeist handelt es sich um eine regelmäßige/monatliche Zuwendung.
- Da jeder Bürger in fast allen Modellen exakt den gleichen Betrag erhält, findet eine Berücksichtigung von spezifischen, individuellen Bedarfen gerade nicht statt. Menschen in Notlagen wie chronisch Kranke, behinderte Menschen etc. erhalten alle denselben Betrag.
- Werden bei der Höhe des Einkommens keine Differenzierungen nach Bedarf(en) vorgenommen, so wird andererseits die Auszahlung nicht davon abhängig gemacht, dass der Empfänger „bedürftig“ ist. Dies ist geradezu das Wesen des Grundeinkommens: Es ist „bedingungslos“. Weder spielt die Einkommens- und insbesondere die Vermögenslage des Einzelnen eine Rolle (auch der Einkommensmillionär oder Großgrundbesitzer erhält den Grundbetrag monatlich), noch kommt es auf die Unterstützung bzw. Unterhaltsansprüche gegen Familienmitglieder oder Ehegatten an. Jede (r) wird als Einzelne (r) gedacht, ohne dass er/sie sich Einkommen und Vermögen Dritter zurechnen lassen müsste.
- Damit hängt der verwandte Aspekt zusammen, dass das Grundeinkommen nicht vom Einsatz der Arbeitskraft abhängig gemacht werden darf. Bedingungslos in diesem Sinne bedeutet also, geleistet wird ohne die Verpflichtung, durch Arbeit selbst zum Lebensunterhalt beizutragen. Mit gewissem Stolz verkünden die Befürworter des Konzepts, dass damit der uralte Grundsatz „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ außer Kraft gesetzt werde.
In einem Satz zusammengefasst lautet das Programm des garantierten Grundeinkommens:
Jeder Anspruchsberechtigte erhält unabhängig von seinem Bedarf und unabhängig von seiner Bedürftigkeit denselben fixen Betrag „X“ ausbezahlt.
Die Ansätze zum garantierten Grundeinkommen und die Grundkonzeptionen des Bürgergelds
Einige der Grundkonzeptionen des Bürgergelds geraten damit in die Nähe des garantierten Grundeinkommens: So wird insbesondere die Bedürftigkeitsprüfung stark vereinfacht und damit auch Personen mit erheblichen Vermögenswerten der Zugang zum Bürgergeld ermöglicht. Auch der Zwang, vorrangig die eigene Arbeitskraft einzusetzen, wird relativiert. Schließlich ist auch die Berücksichtigung individueller Bedarfe nur eingeschränkt möglich, ist das Bürgergeld doch, ebenso wie das Grundeinkommen, im Grundsatz für alle gleich hoch.
In meinem Beitrag in VSSAR, Heft 2/2022, habe ich mich ausschließlich mit dem garantierten Grundeinkommen beschäftigt und die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens mit der konkreten sozialrechtlichen Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland konfrontiert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die meisten Grundeinkommensmodelle das Sozialsystem insgesamt abschaffen und für alle Bürger einheitlich durch ein Grundeikommen ersetzen wollen. Dies unterscheidet das Grundeinkommen fundamental vom Bürgergeld, das bei Beibehaltung der gesamten Sozialversicherung (Rente, Pflege etc.) letztlich doch nach Fürsorgegrundsätzen gewährt werden wird.
Die bereits etablierte Sozialrechtsordnung und alle ihre Leistungen werden von den Befürwortern eines solchen, „ersetzenden“ Grundeinkommens weitgehend ignoriert bzw. wie bei Richard David Precht und Götz Werner sogar diskreditiert. So wird verkannt, dass bereits jetzt ein menschenwürdiges, soziokulturelles Existenzminimum verfassungsrechtlich garantiert ist, das die geforderten Grundeinkommensbeträge übersteigt. Das durch den Sozialstaat gewährleistete Sicherungsniveau bei sozialen Risiken wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Behinderung und Alter wird durch ein Grundeinkommen nicht erreicht, so dass dieses zu »Sozialabbau« führt. Insbesondere die Bedeutung und die finanzielle Struktur der gesetzlichen Krankenversicherung werden von allen Grundeinkommensmodellen systematisch ausgeblendet und teilweise zynisch kommentiert. Da die bisher erworbenen Rechtspositionen verfassungsrechtlich geschützt sind, müssten zudem, trotz des Wunsches nach einem radikalen Bruch, noch für lange Zeit Altansprüche erfüllt werden.
Im Vergleich zu den bestehenden Grundsicherungsansprüchen wird die Rechtsstellung des Grundeinkommensbeziehers insgesamt schwächer, steht die Höhe des zu zahlenden Grundbetrags doch im Belieben des jeweils wechselnden Gesetzgebers. Durch den Verzicht auf jede Bedürftigkeitsprüfung schafft ein bedingungsloses Grundeinkommen zudem eine Gesellschaft der Einzelnen, die in keinerlei familiären oder sonstigen Zurechnungsgemeinschaften mehr stehen. Die Auswirkungen auf Familien- und Unterhaltsrecht werden nicht reflektiert, ebenso wenig wie die ausländerrechtliche Problematik der Bezugsberechtigung.
Den vollständigen Beitrag aus der VSSAR, Heft 2/2022, S. 73-116, können Sie hier kostenlos downloaden.
Anmerkung der Redaktion
Bitte beachten Sie vertiefend hierzu auch die weiteren Beiträge zum geplanten Bürgergeldgesetz: