BAG entscheidet zur Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung 
Recht & Verwaltung01 April, 2022

Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung 

von Torsten Herbert, Geschäftsführer des KAV NRW

Sachverhalt

Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung für Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin. 

Die Klägerin war bei der Beklagten seit Ende August 2018 als kaufmännische Angestellte beschäftigt. Am 08.02.2019 kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis zum 22.02.2019 und legte der Beklagten eine auf den 08.02.2019 datierte, bis zum 22.02.2019 bescheinigte, als Erstbescheinigung gekennzeichnete Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor.

Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erschüttert, weil diese genau die Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses nach der Eigenkündigung der Klägerin abdecke.  

Die Klägerin hat demgegenüber geltend gemacht, sie sei ordnungsgemäß krankgeschrieben gewesen und habe vor einem Burn-Out gestanden.  

ArbG und LAG haben der auf Entgeltfortzahlung für die Zeit vom 08.-22.02.2019 gerichteten Zahlungsklage stattgegeben. 

Die Revision der Beklagten zum BAG hatte Erfolg. 

Entscheidung

Das BAG hat im vorliegenden Urteil vom 08.09.2021 - 5 AZR 149/21 - einleitend herausgestellt, dass die Klägerin, die von ihr behauptete Arbeitsunfähigkeit im Streitzeitraum mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zunächst nachgewiesen habe. Diese sei das gesetzlich vorgesehene Beweismittel.  

Den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung könne der Arbeitgeber allerdings erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlege und ggf. beweise, dass Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit geben seien.  
Gelinge dies dem Arbeitgeber, müsse der Arbeitnehmer substantiiert darlegen und beweisen, dass er arbeitsunfähig war. Dieser Beweis könne insbesondere durch Vernehmung des behandelnden Arztes nach entsprechender Befreiung von der Schweigepflicht erfolgen.  

Nach diesen Grundsätzen habe die Beklagte den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert. Das zeitliche Zusammentreffen zwischen der Kündigung vom 08.02.2019 zum 22.02.2019 und der am 08.02.2019 bis zum 22.02.2019 bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründe einen ernsthaften Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit. Die Klägerin sei im Prozess ihrer Darlegungslast zum Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit – auch nach Hinweis des Senates – nicht hinreichend konkret nachgekommen.  

Die Klage sei daher abzuweisen gewesen. 

Praktische Bedeutung

Den §§ 5 Abs. 1, 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG ist die normative Wertung zu entnehmen, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung das für den Arbeitnehmer grundsätzlich erforderliche, aber auch ausreichende Beweismittel für seinen Anspruch nach § 3 EFZG darstellt.  

Freilich sind seitens des Arztes bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit körperlicher, geistiger und seelischer Gesundheitszustand auf Grund einer unmittelbar persönlichen ärztlichen Untersuchung (Anm.: wahrheitsgemäß) zu berücksichtigen (§ 4 Abs. 1 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie; zur Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit vgl. § 5 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie).  

Zweifel am Bestehen einer ärztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeit sind insbesondere in Fällen anzunehmen, in denen Versicherte auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind oder der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche fällt oder die Arbeitsunfähigkeit von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist (§ 275 Abs. 1a S. 1 SGB V). 

Die o.g. Vorschriften des EFZG begründen zunächst für den Arbeitnehmer die (unselbständige Neben-) Pflicht, eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit vorzulegen, und sie berechtigen den Arbeitgeber, die Fortzahlung des Arbeitsentgelts zu verweigern, solange der Arbeitnehmer die Bescheinigung nicht beibringt.  

Daraus folgt, dass der Arbeitnehmer seiner Nachweispflicht über das Vorliegen einer zu Leistungen nach § 3 EFZG berechtigenden Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich mit der Vorlage der ärztlichen Bescheinigung genügt; denn nach Vorlage dieser Bescheinigung kann der Arbeitgeber die Fortzahlung des Arbeitsentgelts nicht mehr mit dem bloßen Bestreiten verweigern, es liege keine Arbeitsunfähigkeit vor. 

Der Arbeitgeber, der eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht gelten lassen will, muss daher im Rechtsstreit Umstände darlegen und beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an der behaupteten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben. An diesen Rechtsgrundsätzen ist festzuhalten, selbst wenn es bei der Erlangung und Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu Missbrauch kommen kann (vgl. LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.04.2021 - 5 Sa 932/20 -). 

Das vorstehende Urteil des 5. Senates des BAG greift zum einen die ständige Rechtsprechung des BAG (vgl. etwa BAG, Urteil vom 19.02.1997 - 5 AZR 83/96 -) auf, wonach einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein entsprechend hoher Beweiswert zukommt. Zum anderen kennzeichnet das BAG einen konkreten Fall, in dem es dem Arbeitgeber gelungen ist, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch zu erschüttern, dass er tatsächliche Umstände – hier das zeitliche Zusammentreffen zwischen dem Zeitraum der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und der Kündigungsfrist – dargelegt und bewiesen hat, die Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit gegeben haben und damit zu einer Umkehr der Darlegungs- und Beweislast zu Lasten der Klägerin geführt haben. 

Im vorliegend entschiedenen Fall ist es der Klägerin nicht gelungen, substantiiert darzulegen und zu beweisen, dass sie arbeitsunfähig war. Ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung ist dementsprechend nicht entstanden – die Zahlungsklage war abzuweisen. 

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