Prof. Dr. Marc Sieper, Mag. rer. publ., Professor für Recht der Sozial- und Gesundheitssysteme, Evangelische Hochschule Ludwigsburg
Der verfassungsrechtliche Hintergrund: Vom Bundesverfassungsgericht bis zum Sanktionsmoratorium
Es ist etwas mehr als drei Jahre her, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16 – die im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) geregelten und seit jeher umstrittenen Sanktionen teilweise für verfassungswidrig erachtete, weil diese in ihrer konkreten Regelung nicht mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sowie dem Grundrecht auf Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar waren. Den in diesem Zuge ergangenen Auftrag an die Gesetzgebung verband das Bundesverfassungsgericht mit Übergangsregelungen, die insoweit nach § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft hatten. Im Zuge des im Koalitionsvertrag 2021-2016 in Aussicht gestellten Bürgergeldes galt es dann, die vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Bestimmungen neu zu regeln und in einen verfassungsrechtlich unbedenklichen Zustand zu überführen. Bis dahin erging als sog. „Sanktionsmoratorium“ das 11. Gesetz zur Änderung des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch vom 19.06.2021 (BGBl. I 2022, 921), welches mit § 84 SGB II die Regelung des § 31a SGB II gänzlich nicht und die Regelung des § 32 SGB II nur mit Einschränkungen für anwendbar erklärte.
Das Bürgergeld-Gesetz und das Vorziehen der Neuregelungen über die Leistungsminderungen auf den 01.01.2023
Das sog. „Sanktionsmoratorium“ sollte bis zum 01.07.2023 gelten, sodann sollten die mit dem 12. Gesetz zur Änderung des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung eines Bürgergeldes – (Bürgergeld-Gesetz) angedachten Änderungen in Kraft treten. Mit dieser zeitlichen Vorgabe ist dann auch am 10.11.2022 das Gesetz verabschiedet worden, bevor der Bundesrat am 14.11.2022 seine Zustimmung verweigerte und der Vermittlungsausschuss bemüht werden musste. Zu unterschiedlich waren die Positionen von Regierung und Opposition zur inhaltlichen Ausgestaltung des Bürgergeldes. Letztlich konnte unter dem 23.11.2022 eine Einigung im Vermittlungsausschuss erzielt werden (BT-Drucks. 20/4600), die dann auch am 25.11.2022 vom Bundestag angenommen wurde. Damit kann das Bürgergeld als einer der wesentlichen Punkte des Koalitionsvertrages rechtzeitig zum 01.01.2023 kommen.
Nahezu ohne große Diskussion in der Öffentlichkeit und – da die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 23.11.2022 ohne Begründung erging – weitgehend unbemerkt wurde mit Verabschiedung des Gesetzes das Sanktionsmoratorium bereits zum 01.01.2023, d.h. vor seinem eigentlich geplanten Ablauf, durch Aufhebung des § 84 SGB II außer Kraft gesetzt und die neuen Regelungen über die Sanktionen aufgenommen, nachdem diese auch nochmals inhaltlich modifiziert wurden. Damit muss man sich zum 01.01.2023 mit einem neuen System auseinandersetzen.
Was ändert sich und was bleibt gleich?
Neue Begrifflichkeiten – aus Sanktionen werden Leistungsminderungen
Zunächst ist anzumerken, dass sich die Begrifflichkeiten ändern. Man spricht ausweislich der Überschrift des Unterabschnitts 5 im dritten Kapitel nicht mehr von „Sanktionen“, sondern allgemein von „Leistungsminderungen“.
Gründe für Leistungsminderungen
Die Gründe, weshalb leistungsberechtigte Personen mit einer Leistungsminderung als Konsequenz rechnen müssen, sind die gleichen wie vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16. Hieran ändert sich dem Grunde nach nichts.
Pflichtverletzungen nach § 31 Abs. 1 SGB II
So sind ab dem 01.01.2023 wieder Pflichtverletzungen während des laufenden Eingliederungsprozesses nach § 31 Abs. 1 SGB II einer Leistungsminderung zugänglich, sofern die leistungsberechtigte Person hierfür keinen wichtigen Grund darlegt und nachweist, namentlich
- die Weigerung, die in der Eingliederungsvereinbarung oder im diese ersetzenden Verwaltungsakt niedergelegten Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II),
- die Weigerung eine zumutbare Arbeit, Ausbildung oder ein nach § 16e gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder die Verhinderung der Anbahnung durch das Verhalten der leistungsberechtigten Person (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) oder
- eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht angetreten, abgebrochen oder Anlass für den Abbruch gegeben wird (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II).
Neu ist ab dem 01.01.2023 nur, dass aus der Regelung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II die Weigerung der Aufnahme und der Fortführung einer Arbeitsgelegenheit nach § 16d SGB II bzw. die Verhinderung deren Anbahnung gestrichen wurde.
Zum 01.07.2023 und der Ersetzung der bis dahin relevanten Eingliederungsvereinbarung durch einen Kooperationsplan wird die Regelung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II entsprechend angepasst.
Pflichtverletzungen nach § 31 Abs. 2 SGB II
Gleich bleiben auch vom 01.01.2023 an die bisher zu beanstandenden Verhaltensweisen nach § 31 Abs. 2 SGB II, die zeitlich vor dem Leistungsbezug liegen und die letztlich zur diesen begründenden Bedürftigkeit geführt oder jedenfalls verstärkt haben, namentlich
- wenn nach Vollendung des 18. Lebensjahres Einkommen oder Vermögen in der Absicht vermindert wurde, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung des Bürgergeldes nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB II herbeizuführen (§ 31 Abs. 2 Nr. 1 SGB II),
- trotz Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis unwirtschaftliches Verhalten fortgesetzt wird (§ 31 Abs. 2 Nr. 2 SGB II),
- der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht oder erloschen ist, weil die Agentur für Arbeit das Eintreten einer Sperrzeit oder das Erlöschen des Anspruchs nach den Vorschriften des Dritten Buches festgestellt hat (§ 31 Abs. 2 Nr. 3 SGB II), oder
- die im SGB III genannten Voraussetzungen für das Eintreten einer Sperrzeit erfüllt sind, die das Ruhen oder Erlöschen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld begründen (§ 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II).
Meldeversäumnisse nach § 32 SGB II
Des Weiteren wird es auch ab dem 01.01.2023 Meldeversäumnisse geben. Namentlich dann, wenn die leistungsberechtigte Person es – trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis – unterlässt, einer Aufforderung des zuständigen Trägers, sich zu melden oder bei einem ärztlichen oder psychologischen Untersuchungstermin zu erscheinen, nachzukommen. Dies gilt nicht, sofern hierfür ein wichtiger Grund dargelegt und nachgewiesen wird.
Leistungsminderungen als Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen und Meldeversäumnissen
Die Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen nach § 31 SGB II ergeben sich aus §§ 31a und 31b SGB II, auf die § 32 Abs. 2 SGB II in Bezug auf die Meldeversäumnisse in weiten Teilen aber verweist. Es kommt insoweit weiter zu Leistungsminderungen.
Die maximale Minderung des Auszahlungsanspruchs, der in allen Fällen auf den jeweils maßgeblichen Regelbedarf nach § 20 SGB II bezieht, ist auch beim Zusammentreffen mehrerer zur Leistungsminderung führenden Tatbestände nach § 31a Abs. 4 Satz 1 SGB II auf höchstens 30 % des Regelbedarfs begrenzt. Neu seit dem 01.01.2023 ist, dass sich dieses nach § 31a Abs. 4 Satz 2 SGB II nicht mindernd auf die Bedarfe für die Kosten der Unterkunft und Heizung auswirken darf.
Vor Verfügung einer Leistungsminderung ist die betroffene Person nach § 24 SGB X anzuhören. Aus § 31a Abs. 2 Satz 1 SGB II folgt nunmehr ab dem 01.01.2023, dass das Jobcenter die Anhörung persönlich durchführen soll, wenn dies die betroffene Person so verlangt. Gleiches gilt nach § 31a Abs. 2 Satz 2 SGB II dann, wenn diese wiederholt ihre Pflichten verletzt oder Meldetermine versäumt hat. Für eine persönliche Anhörung hatte sich auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16 – ausgesprochen.
Leistungsminderungen haben nach § 31a Abs. 3 SGB II ab dem 01.01.2023 ausnahmslos zu unterbleiben, wenn dies im Einzelfall für die leistungsberechtigte Person eine außergewöhnliche Härte darstellen würde. Damit geht die neue Regelung sogar über die seinerzeitigen Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16 – hinaus, welches die Entscheidung über eine Leistungsminderung in einem solchen Fall in das Ermessen des Jobcenters stellte.
Wie bislang auch, gilt für die Feststellung der Leistungsminderungen nach § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II weiterhin die Ausschlussfrist von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Pflichtverletzung bzw. des Meldeversäumnisses.
Gemeinsam ist allen Leistungsminderungen schließlich auch weiterhin, dass nach § 31b Abs. 3 SGB II während der Minderung des Auszahlungsanspruchs kein Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII besteht.
Gestaffelte Höhe der Leistungsminderungen bei Pflichtverletzungen nach § 31 SGB II
Die Höhe für Leistungsminderungen nach § 31 SGB II ist, wie auch schon vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16 – gestaffelt und hängen davon ab, ob es sich um die erste oder eine wiederholte, d.h. eine weitere Pflichtverletzung handelt. Eine solche liegt nach § 31a Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II dann vor, wenn bereits eine Minderung festgestellt und der Beginn des vorangegangenen Minderungszeitraums nicht länger als ein Jahr zurückliegt.
Die Staffelung fällt aber niedriger aus als nach der früheren Rechtslage. Die Minderung bei Pflichtverletzungen nach § 31 Abs. 1 und 2 SGB II beträgt ab dem 01.01.2023:
- 10 % bei der ersten Pflichtverletzung (§ 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II)
- 20 % bei einer weiteren, d.h. der zweiten Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres (§ 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II)
- 30 % bei jeder weiteren Pflichtverletzung, d.h. ab der dritten Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres (§ 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II).
Nach § 31a Abs. 1 Satz 6 SGB II sind die Leistungsminderungen ab dem 01.01.2023 von Gesetzes wegen aufzuheben, sobald die betroffene Person ihre Pflichten erfüllt oder sich jedenfalls nachträglich ernsthaft und nachhaltig hierzu bereit erklärt. Aus § 31b Abs. 2 Satz 2 SGB II folgt, dass eine solche Aufhebung dann möglich ist, wenn zu diesem Zeitpunkt der Minderungszeitraum bereits einen Monat betragen hat; anderenfalls ist eine Aufhebung nach Ablauf dieses Monats vorzunehmen. Damit übernimmt die Gesetzgebung in diesem Punkt die Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts aus seinem Urteil vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16.
Höhe der Leistungsminderungen bei Meldeversäumnissen nach § 32 SGB II
Für Meldeversäumnisse, zu denen nach § 31a Abs. 1 Satz 7 SGB II auch die Pflichtverletzungen nach § 31 Abs. 2 Nr. 3 SGB II in Fällen einer Sperrzeit bei Meldeversäumnissen nach § 159 Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 SGB III gehören, beträgt die Leistungsminderung für jeden einzelnen Fall nach § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB II wie bisher auch 10 % des nach § 20 SGB II maßgeblichen Regelbedarfs.
Beginn der Leistungsminderung
Nach § 31b Abs. 1 Satz 1 SGB II beginnt die Minderung des Auszahlungsanspruchs in allen Fällen auch weiterhin mit Beginn des Kalendermonats, der auf das Wirksamwerden des die Pflichtverletzung und den Umfang der Minderungshöhe feststellenden Verwaltungsakts folgt. Knüpft die Leistungsminderung nach § 31 Abs. 2 Nr. 3 SGB II an den Beginn einer Sperrfrist oder das Erlöschen des Anspruchs nach dem SGB III an, tritt die Minderung nach § 31b Abs. 1 Satz 2 SGB II hiermit ein.
Beratungsangebot statt verschärfte Leistungsminderungen für unter 25jährige erwerbsfähige leistungsberechtigte Personen
Auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 05.11.2019 – 1 BvL – nicht mit den bis dahin geltenden verschärften Leistungsminderungen für erwerbsfähige leistungsberechtigte Personen unter 25 Jahren (§ 31a Abs. 2 SGB II in der bis zum 31.12.2022 geltenden Fassung) befasste, ist diese unterschiedliche Behandlung kritisiert worden. Die Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts sind dann auch auf diesen Personenkreis übertragen worden.
Das ab dem 01.01.2023 geltende System der Leistungsminderungen verzichtet fortan bei der Frage der Höhe der Leistungsminderungen gänzlich auf eine Differenzierung aufgrund des Alters. Allerdings sollen erwerbsfähige leistungsberechtigte Personen unter 25 Jahren seitens des Jobcenters nach § 31a Abs. 6 SGB II innerhalb von vier Wochen nach Feststellung einer Leistungsminderung ein Beratungsangebot erhalten. Mit diesem Angebot soll ein Abbruch des Kontakts zur leistungsberechtigten Person vermieden und dem individuellen Bedarf entsprochen werden. Wird das Beratungsangebot angenommen, ist dies als Bereiterklärung zur Mitwirkung anzusehen, so dass die Leistungsminderungen nach Maßgabe der § 31a Abs. 1 Satz 6 SGB II i.V.m. § 31b Abs. 2 Satz 2 SGB II aufgehoben werden können (BT-Drucks. 20/3873, S. 92).
Anmerkung der Redaktion
Bitte beachten Sie auch die weiteren Beiträge zum Bürgergeld-Gesetz: