Zeiten und Kosten von Kindertagesbetreuung
Recht & Verwaltung10 November, 2021

Zeiten und Kosten von Kindertagesbetreuung

von Prof. Dr. Armin Schneider

»Zeit ist Geld« und »Zahlen bestimmen unser Leben«: Das mag so sein, dennoch gilt es, hier einmal genauer hinzusehen und diese vermeintlichen Logiken zu hinterfragen. Für den Bereich der Kindertagesbetreuung könnte auch gelten: Zeit verlieren ist für Kinder wichtig und Geld ausgeben für eine gute Qualität in der Kindertageseinrichtung sollte wichtiger sein als »Quality time« und »Kostenkontrolle«. Daher gilt ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber angeblich gemessenen Zahlen.

Die Umgangssprache bringt es an den Tag: Ein Viertelstündchen ist etwas ganz anderes als 15 Minuten, hier die Muße oder der Genuss, dort die klare Zeittaktung. Ein Blick auf die Historie der Zeit zeigt, dass der Umgang in verschiedenen Zeitepochen ein ganz anderer war, ist und in Zukunft sicher sein wird. Noch vor einigen Jahrhunderten, als vielleicht die Zeit noch nicht mit Uhren gemessen wurde, es noch keine abendliche Beleuchtung gab, gab die Natur die Zeit vor. Wenn die Sonne aufging, wachten die Menschen auf, wenn die Sonne unterging, war es Zeit zum Schlafen. Als die Uhr ins Spiel kam, interessanterweise dauerte es eine Zeit bis man sich auf gemeinsame Uhrzeiten in einem Land einigte, war es zum einen einfacher, sich zu vereinbaren, zum anderen aber gab die Uhr den Takt vor, das Maß der Dinge war die Pünktlichkeit. Wer einen Zeitmesser hatte war im Vorteil. In der Industrie führte dies dazu, dass die Zeit mitunter auch mal ausgenutzt wurde und die Werksuhr, die den Takt vorgab, zurückgestellt wurde. Welche eine Befreiung muss es dann gewesen sein, als mit dem Zeitalter der individuellen Taschenuhr hier die Richtigkeit der Werksuhr überprüft werden konnte. Heute scheint die Zeit noch eine andere Rolle zu spielen: Es geht um eine Beschleunigung allerorten. Ja, mehr noch. Spätestens seit der Verbreitung des Smartphones meinen wir alles auf einmal tun zu können: Das Smartphone am Ohr, das Kind an der Hand und dazwischen noch den Einkauf erledigen. Das Wort des Multitasking macht längst die Runde. Es scheint nicht mehr die Frage zu sein, ob man multitaskingfähig ist, sondern eher wie und in welchem Umfang. Dass die Natur Zeiten vorgibt merkt man vielleicht noch bei irgendwelchen »Un«Wetter-Ereignissen oder an der Länge der Tage, weniger im Arbeitsalltag. Vielleicht müssen wir hier von Kindern das Staunen über die Natur wieder neu erlernen. Langsam wird aber auch erkannt, dass die Natur das Tempo unseres Lebens nicht mehr mitmacht und ein anders Tempo hat: Umweltzerstörungen sind schneller als deren Regeneration, das Abholzen ist schneller als das Nachwachsen, das Artensterben vollzieht sich rasanter als die Entwicklung neuer Arten. Aber spätestens seit Covid 19 wissen wir auch, dass manche Entwicklungen in der Natur schneller verlaufen als wir uns das denken. Auch die frühere Pünktlichkeit spiele keine Rolle mehr: Man ist ja immer erreichbar und kann jederzeit einen Termin verschieben, neu vereinbaren oder einfach stornieren. Aber: »Geht’s um Zeit in Kultur, Kunst, Politik, oder in Bildung und Erziehung, ist die Ressourcenperspektive fehl am Platze. In der Ökonomie muss man Zeit gewinnen, in der Erziehungs- und der Bildungsarbeit, wie auch in der Kunst, Zeit in kreativer Art und Weise verlieren« (Geißler, Karlheinz A., S. 115). Genau hier ist ein anderes Umgehen mit der Zeit gefragt: Weder das Lernen und Entdecken in der frühen Kindheit verläuft nach Plan, noch das individuelle Lernen in der Schule folgt dem Curriculum.

Entwicklungssprünge, -pausen, Lernpausen und Lernflows sind eher die Regel als die Ausnahme. Jede pädagogische Fachkraft, muss, wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, zugeben, dass sie nicht alles in der Hand hat. Wenn sie dies jedoch glaubt, ist Skepsis angesagt, denn dann handelt es sich wahrscheinlich eher um Dressur als um Erziehung und dann sollte eine Umschulung in Richtung Zirkus erwogen werden, wobei dabei der Tierschutz auch mitbedacht werden sollte.

Ganz unterschiedliche Zeitlogiken

»Schneller, höher, weiter« – ist das nicht immer so auch ausgesprochene Ziel unserer Wirtschaft und Gesellschaft, ein immerwährendes Wachstum das Mantra unserer Zeit. Im Bereich der Kinderbetreuung ist oft von »Quality time« die Rede. Damit ist ein Zeitfenster gemeint, in dem Vater, Mutter oder beide Elternteile ganz für das Kind da sind. Das mag eine Zeit lang funktionieren aber Kinder haben ihren eigenen Zeitplan und ihre eigene Entwicklung. Manchmal rächt sich die vertaktete Kindheit im Jugendalter eines Kindes. Eine völlig durchgetaktete Kindheit – morgens Kita, möglichst mehrsprachig, nachmittags Klavier, Sport und dann ab ins Bett – beraubt den Kindern auch Zeiten der Selbstwirksamkeit in Bezug auf Zeit. Aktivitäten, freie Zeiten, Zeiten des Wartens, der Langeweile, Zeiten der Unaufmerksamkeit und Zeiten der Konzentration gehören zu den Zeiten, die für eine gesunde Entwicklung essenziell sind und sind in diesem Sinne wichtige Zeitressourcen für Kinder.

Aber nicht nur im Umgang mit den Kindern gibt es unterschiedliche Zeitlogiken und Zeitmuster. Wir erleben es im Alltag: Die einen sind eher Frühaufsteher, die anderen eher Nachtmenschen. Die alten Griechen hatten zwei Wörter für die Zeit: für die ablaufende Zeit Chronos, für die richtig Zeit Kairos. Auch das erleben wir: Manchmal kommt es bei einer Idee, beim Arbeiten mit Kindern auf den richtigen Zeitpunkt an, um etwas zu wirken oder zu bewirken. Ein Beispiel aus der Tierwelt mag dies verdeutlichen: herkömmlich ist davon die Rede, dass es im Verhältnis von Löwen und Gazellen auf die Geschwindigkeit ankommt: das schnellste Tier gewinnt. Beobachtete man aber den ganzen Zeitablauf, dann besteht weder das Leben des Löwen noch das der Gazelle aus Jagdszenen, sondern auch Zeiten des friedlichen Beieinanders (z.B. wenn der Löwe satt ist), der Ruhe, des Zusammenseins mit anderen Tieren in der Gruppe oder Herde, des Spielens mit den Jungtieren, des Fressens und Trinkens gehören dazu (vgl. Geißler 2021, S. 132 f.). Aus dieser Perspektive geht es zwischen Raub- und Beutetieren eigentlich darum, die Zeitlogik des jeweils anderen Tieres zu verstehen, um zu überleben.

Auf die Arbeit in der Kindertageseinrichtung bezogen kann die Achtung der Zeitlogik bedeuten: Die Zeitlogiken der Kinder, der Akteure im Sozialraum, des Trägers, der Leitung, der Fachberatung in den Blick zu nehmen, aber auch Zeitläufe von Zeitpunkten zu unterscheiden, um Einzelne und Systeme in der Entwicklung voranzubringen.

Messung macht Macht

An dem oben genannten Beispiel von Werksuhr und Taschenuhr wurde bereits erkennbar, welche Macht ein Messinstrument hat. Das gilt auch für andere Zahlen, beispielsweise im Rahmen von Monitoring und Evaluation im Feld der Kindertagesbetreuung. Die Zahlen, die in der Kinder- und Jugendhilfestatistik im März von allen verlangt werden, stehen den statistischen Ämtern und Abteilungen zur Verfügung und sie werden für Entscheidungen in der Politik und bei den Trägern genutzt. Von der Praxis werden sie nur selten genutzt, sind nur sehr schwer zugänglich und nur mit statistischen Kenntnissen auswertbar. Wenn Zahlen und Messen Macht bedeuten, wäre es sinnvoll, nicht nur die Daten von den Einrichtungen und Trägern zu erheben, sondern diese auch aufbereitet vor Ort zur Verfügung zu stellen, um eigene Schlüsse (u.a. auch bezüglich Entwicklungen z.B. des Fachkraft-Kind-Schlüssels, der Leitungszeiten etc.) nachvollziehen zu können und mit diesen Daten zu arbeiten. Im Übrigen würde dies auch deutlich die Motivation erhöhen, die Daten sorgfältig, genau und aktuell zu halten. Natürlich darf dabei nicht vergessen werden, dass Zahlen und Indikatoren nur Teile der Wirklichkeit beschreiben, ähnlich wie Landkarten nur wenige Dimensionen einer Landschaft darstellen und die Speisekarte noch lange nicht alle Dimensionen der Qualität der angebotenen Speise zeigt.

Zahlen nur bedingt trauen

Auf einen anderen Aspekt weist Schieritz hin: In Gesetzgebungsverfahren auf Bundes- und Landesebene werden in der Begründung immer Kosten angegeben (z.B. beim so genannten Gute-Kita-Gesetz). Je näher die Kosten an der Nulllinie sind umso eher hat ein Gesetz in den Parlamenten, so scheint es zumindest, eine Chance auf Zustimmung. Was dabei allerdings meist vergessen wird: Die dort ermittelten (kurzfristigen) Kosten werden kaum den (langfristigen) Leistungen oder dem Nutzen entgegengestellt. In dieser Logik bleibt die Kindertagesbetreuung also immer mit Kosten verbunden. Die Leistungen, die diese für die Gesellschaft erbringt, werden nicht erhoben und auch nicht die Alternativkosten (was würde es die Gesellschaft kosten, wenn es keine gute Kindertagesbetreuung gäbe). »Wenn staatliche Ausgaben nicht nur als Kostenfaktor, sondern auch als Beitrag zur Wertschöpfung begriffen werden können, dann führt die Frage nach den Kosten einer Maßnahme möglicherweise in die Irre« (Schieritz 2021). Bezogen auf die Klimaneutralität könnte der Nutzen von Interventionen weit über den Kosten liegen, oder: »Der Kampf gegen den Klimawandel ist billiger als ein Brötchen – sofern man richtig rechnet« (a.a.O.).

Im betrieblichen Rechnungswesen werden Kosten meist dem Nutzen gegenübergestellt und in die Kalkulation einbezogen.

Fazit

Messungen von Zeit und Geld haben deutliche Tücken. Es ist an der Zeit, gerade in der frühen Bildung herauszustellen, dass Kinder Zeit brauchen und es nicht nur um das Gewinnen an Zeit, sondern auch um das Verlieren von Zeit geht. Aber auch beim Geld geht es darum, immer wieder erkennbar zu machen, dass der Nutzen einer guten Kindertagesbetreuung bei weitem die Kosten überwiegt. Und allen Zweifeln zum Trotz: das lässt sich sehr wohl auch berechnen. Dazu braucht es Rechenkompetenz, Zugänge zu Daten und politischen Willen.

Literatur

Geißler, J. (2021): Zeitvielfalt. In: Lesch, H., Geißler, K. A. & Geißler, J. (2021): Alles eine Frage der Zeit. Warum die »Zeit ist Geld« – Logik Mensch und Natur teuer zu stehen kommt, S. 127–169.
Geißler, K. A. (2021): Uhrzeitfolgen. In: Lesch, H., Geißler, K. A. & Geißler, J. (2021): Alles eine Frage der Zeit. Warum die »Zeit ist Geld« – Logik Mensch und Natur teuer zu stehen kommt, S. 85–125.
Lesch, H., Geißler, K. A. & Geißler, J. (2021): Alles eine Frage der Zeit. Warum die »Zeit ist Geld« – Logik Mensch und Natur teuer zu stehen kommt.
Schieritz, M. (2021): Kostet dieses Brötchen mehr als die Pandemie. Das könnte sein. Denn so häufig es im Wahlkampf um Kosten gehen wird: Viele benutzen den Begriff falsch.

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Prof. Dr. Armin Schneider

Herausgeber der KiTa aktuell für Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland, Direktor des Institutes für Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindheit|Rheinland-Pfalz (IBEB)

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