Wie kann die Schule die Schulpflicht durchsetzen?
Das Problem: Nach dem Lockdown ist vor dem Lockdown? Wir wollen es nicht hoffen. Doch wenn die inzwischen „vierte Welle“ auf uns zurollen sollte und die Schulen wieder schließen, stellen sich Probleme, wenn Schüler den Distanzunterricht schwänzen. Wie kann die Schulpflicht wirksam durchgesetzt werden, wenn Schüler zu Hause und daher nicht „greifbar“ sind?
Das sagt das Recht
Auch wenn der Präsenzunterricht eingestellt wird, bleibt die gesetzliche Schulpflicht bestehen. Die Schülersind verpflichtet, den von ihrer Schule angebotenen Distanzunterricht oder sonstige Lernformate wahrzunehmen; Eltern bleiben verpflichtet, die Teilnahme sicherzustellen. Verschiedene Instrumente kommen– jedenfalls theoretisch – in Betracht, wenn dieser Pflicht nicht nachgekommen wird:
Zunächst ist an den sog. „Schulzwang“ zu denken. Schüler, die die Schulpflicht nicht erfüllen, können nach den schulgesetzlichen Vorschriften der Länder – jeweils in Verbindung mit den Vorschriften der Verwaltungsvollstreckungsgesetze – der Schule zwangsweise zugeführt werden. Wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit kommen Zwangsmittel erst dann in Betracht, wenn andere Einwirkungen auf den Schüler oder die Eltern (dazu jeweils später) erfolglos geblieben sind oder von vorneherein keinen Erfolg versprechen.
Zuständig für die Durchführung der zwangsweisen Zuführung ist die für den Wohnsitz des Schülers zuständige Verwaltungs- oder Polizeibehörde. Diese wird, je nach Landesrecht, auf Antrag oder Anordnung des Schulleiters oder der Schulbehörde tätig. Es folgt ein großes Aber: Eine zwangsweise Zuführung zum Unterricht in der Wohnung dürfte schon an der durch Art. 13 Grundgesetz (GG) verbürgten „Unverletzlichkeit“ der Wohnung scheitern. Und wie sollte die Zuführung in der Praxis überhaupt durchgesetzt werden? Soll der Schüler etwa zwangsweise an seinen Schreibtisch gesetzt werden? Sie merken es schon, das Instrument des „Schulzwangs“ ist auf die Zuführung zum Distanzunterricht nicht zugeschnitten. Theoretisch denkbar wäre zwar folgende Vorgehensweise: Der Schüler könnte zwangsweise in das Schulgebäude geführt werden, um dort unter Aufsicht den von der Schule angebotenen Distanzunterricht abzuleisten. Aber das dürfte in der Praxis schon mangels Personals nicht darstellbar sein. Außerdem gilt es zu bedenken, dass die erzwungene körperliche nur selten auch zu einer geistigen Anwesenheit des Schülers und entsprechendem Lernfortschrittführen dürfte. Abschließend stellen sich zudem Beweisschwierigkeiten. Die Schule müsste dem Schülernachweisen, dass dieser vorsätzlich dem Distanzunterricht fernbleibt. Wie soll das erfolgen? Der Schüler könnte sich stets darauf berufen, dass just zur maßgeblichen Zeit die Internetverbindung gestört war – was angesichts der baufälligen deutschen „Datenautobahn“ a priori gar nicht einmal so unglaubhaft wäre.
Denkbar sind familienrechtliche Maßnahmen. Die Erziehungsberechtigten trifft die Pflicht, den regelmäßigen Schulbesuch ihrer Kinder sicherzustellen. Das gilt auch in Bezug auf die Teilnahme am Distanzunterricht und sonstigen (Online-)-Lernformaten, die von der Schule angeboten werden. Kommen sie dem nicht nach oder weigern sie sich gar hartnäckig, ihr schulpflichtiges Kind an diesen Formaten teilnehmen zu lassen, stellt dies einen das Kindeswohl gefährdenden Missbrauch des Sorgerechts dar. Sind sie nicht gewillt oder nicht in der Lage, diese Gefahr abzuwenden, hat das Familiengericht nach § 1666 BGB die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Zu diesen Maßnahmen gehören nach § 1666Abs. 3 Nr. 2 BGB Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen. Reichen diese Gebote nicht, kann das Gericht in Zeiten von Präsenzunterricht die schultägliche Herausgabe des Kindes an eine dazu bestimmte Person oder Behörde anordnen, die das Kind zur Schule bringt. Die Durchsetzung dieser gerichtlichen Anordnung dürfte indes in Zeiten des Distanzunterrichts wiederum an Art. 13 GG scheitern.
Als letztes Mittel kann das Gericht den Eltern ggf. sogar wesentliche Teile der Personensorge entziehen, indem es das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf das Jugendamt oder einen Ergänzungspfleger überträgt. Dieser könnte sodann – anstelle der Eltern – für die Teilnahme des Kindes am Distanzunterricht sorgen.
Um die Teilnahme am Fernunterricht sicherzustellen, kommen schließlich Geldbußen in Betracht: Außer in Baden-Württemberg ordnen sämtliche Länder Verstöße gegen die Schulpflicht zudem als Ordnungswidrigkeiten ein, die nach den Vorschriften des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG) mit Geldbußen geahndet werden können. Ordnungswidrig handelt danach etwa, wer vorsätzlich oder fahrlässig als Eltern der Verpflichtung zur Anmeldung zum Schulbesuch nicht nachkommt oder nicht dafür sorgt, dass der Schulpflichtige am Unterricht und an den sonstigen Veranstaltungen der Schule regelmäßig teilnimmt. „Regelmäßig“ bedeutet dabei „der Regel entsprechend“, weshalb eine regelmäßige Teilnahme bereits dann nicht mehr vorliegt, wenn der Schüler lediglich an einem Tag die Schule versäumt. Dies ist insbesondere bei Fehlzeiten unmittelbar vor oder nach den Schulferien von Bedeutung. Die an die Eltern gerichtete Verpflichtung, für die Erfüllung der Schulpflicht zu „sorgen“, ist im Sinne eines aktiven Tuns auszulegen. Mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln haben sie die Schulpflicht durchzusetzen und die Schulpflichtigen dazu zu bringen, dass sie zur Schule gehen bzw. am Distanzunterricht teilnehmen. Mit der bloßen Behauptung, man habe seinem Kind doch gesagt, es solle zur Schule gehen, können sich Eltern daher nicht herausreden.
In den meisten Bundesländern begeht auch der Schulschwänzer selbst eine Ordnungswidrigkeit, sofern er mindestens 14 Jahre alt und zur Tatzeit „nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln“, § 12 OWiG i.V.m. § 3Jugendgerichtsgesetz.
Sofern das jeweilige Land dies nicht abweichend geregelt hat, beträgt die Geldbuße nach § 17 OWiG mindestens fünf und höchsten 1.000 Euro. Zuständige Behörde ist je nach Landesrecht die Schulaufsichtsbehörde oder die sog. untere allgemeine Verwaltungsbehörde (Bürgermeister oder Landrat).Aber auch insoweit bestehen die schon oben angesprochenen Beweisschwierigkeiten.
Am ehesten versprechen Erziehungsmaßnahmen (in manchen Ländern: „erzieherische Einwirkungen“)Erfolg, wenn Schüler sich weigern (regelmäßig) am Distanzunterricht teilzunehmen. Sie dienen der geordneten Unterrichts- und Erziehungsarbeit der Schule, vgl. z.B. § 53 Schulgesetz NRW . Zu denken ist insoweit etwa an Nacharbeit. Diese kann auch unter virtueller Aufsicht erfolgen – wobei sich dann natürlich erneut Probleme stellen, wenn sich der Schüler weigert, an der Online-Nacharbeit teilzunehmen. Vorzugswürdig erscheint daher die Anordnung von Nacharbeit in Präsenz, wenn kein Betretungsverbot und die Hygienemaßnahmen eingehalten werden können. Eine erzieherische Einwirkung kann ferner die Anordnung von Meldepflichten oder Anwesenheitschecks sein. Auch das schriftliche Einreichen von(Zusatz-)Aufgaben ist möglich.
Anstelle von erzieherischen Einwirkungen oder als flankierende Maßnahme können Elterngespräche helfen, in deren Rahmen den Erziehungsberechtigten nachdrücklich vor Augen geführt wird, welche Nachteile ihrem Kind durch das Schulschwänzen drohen. Die Gespräche sollten zunächst durch eine Vertrauenslehrkraft der Schule geführt werden. Der Schulleiter dient hier als die nächste Eskalationsstufe und Drohkulisse.
Als nächste Stufe nach erzieherischen Einwirkungen sind Ordnungsmaßnahmen in Betracht zu ziehen. Sie sind zulässig, wenn Erziehungsmaßnahmen nicht ausreichen. Die einzelnen Ordnungsmaßnahmen sind in den Schulgesetzen abschließend aufgezählt. Ordnungsmaßnahmen sind etwa der schriftliche Verweis, die Überweisung in eine parallele Klasse oder Lerngruppe oder die Androhung der Entlassung von der Schule bzw. die Entlassung selbst. Anlass für solche Maßnahmen kann nur ein schwerwiegendes Fehlverhalten eines Schülers sein. Die Schulgesetze der Länder verlangen eine „grobe Pflichtverletzung“ bzw. „erhebliche Störungen des Unterrichtsbetriebs“. Es wird deutlich, dass hier ein bloß gelegentliches Fernbleiben vom Distanzunterricht in der Regel nicht ausreicht.
Flankierend zu sämtlichen Maßnahmen kann sich die Schule durch das Jugendamt unterstützen lassen. Dieses geht den Ursachen der Schulmüdigkeit im Rahmen seiner Jugendsozialarbeit auf den Grund und wird sozialpädagogisch tätig, vgl. § 13 , 81 Nr. 4 SGB VIII.
Mein Rat
Das schulrechtliche Instrumentarium ist auf Verstöße gegen die Pflicht zur Teilnahme am Distanzunterricht –verständlicherweise – nicht ausgelegt. Hier ist in besonderem Maße pädagogisches Feingefühl und kommunikatives Geschick gefordert. Denn häufig kommen im Gespräch triftige Gründe ans Licht, weshalb ein Schüler dem Distanzunterricht fernbleibt. Bisweilen fehlt es in beengten Wohnverhältnissen schlicht an einemgeeigneten Lernort, der ein konzentriertes Lernen frei von Störungen Dritter erlaubt. Zum Teil verfügt die Familie nur über eine ausreichende IT-Ausstattung. Und manche Schüler werden durch ihre Eltern zur Aufsicht über jüngere Geschwister verpflichtet. Ein Drohen mit Schulzwang oder Geldbußen hilft dann wenig.