Grundrechtsschutz Europaeisches Patent
Recht & Verwaltung26 Januar, 2023

Entscheidungsanalyse BVerfG, Beschluss vom 08.11.2022, 2 BvR 2480/10

Dr. Ferdinand Weber, MLE. / Akademischer Rat a.Z., Institut für Völkerrecht und Europarecht, Universität Göttingen, Autor Einheitspatentsystem Kommentar

Nach der im Corpus Iuris Civilis verbürgten Maxime ist das Recht für die Wachsamen geschrieben. 
Das Gelingen rechtswahrender Handlungen hängt mit anderen Worten auch von Faktoren ab, die Betroffene selbständig im Auge haben müssen. Der Zivilprozess gründet sich etwa auf die Dispositionsmaxime und kennt Präklusionsnormen. Das materielle Recht gibt auf, Verjährungsfristen und die Beschränkung von Gestaltungsrechten im Auge zu behalten. 

Der am 12. Januar 2023 veröffentlichte Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. November 2022 (2 BvR 2480/10 u.a.) zeigt, dass der Gedanke auch im öffentlichen Recht greift. Grundrechtsschutzfragen gegen Maßnahmen der Europäischen Patentorganisation erfordern in mehrfacher Hinsicht Wachsamkeit. Obwohl die fünf Verfassungsbeschwerden allesamt an der Zulässigkeit scheiterten, liefert der Zweite Senat hierzu verfassungsprozessuale und -dogmatische Klarstellungen. Die breite Wiedergabe der rechtlichen Grundlagen und Struktur des Europäischen Patentamts (EPA) mit Abdruck von Normen – die eigentliche Entscheidungsbegründung beginnt nicht vor Rn. 100 – kann fast als Einstiegslektüre für mit dem System Unvertraute empfohlen werden. Über den Entscheidungsgegenstand hinaus lassen sich zudem Schlüsse für den Grundrechtsschutz im und gegen das Einheitliche Europäische Patentgericht (EPGÜ) ziehen, das in diesem Jahr seine Arbeit aufnehmen wird


Verwerfung der Verfassungsbeschwerden

Die Verfassungsbeschwerden richteten sich unmittelbar gegen Entscheidungen der Technischen Beschwerdekammern und/oder der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts, mittelbar gegen verschiedene Normen des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) und abgeleiteter Vorschriften. Als Beschwerdeführerinnen traten durchweg juristische Personen auf. Sie behaupteten ein offenkundiges und generelles Rechtsschutzdefizit innerhalb des EPA. 

Der Zweite Senat verwirft alle Verfassungsbeschwerden als unzulässig (Rn. 100). 
Es kann sich bereits keine der Beschwerdeführerinnen auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen. Ihr jeweiliger Hauptsitz lag zum Zeitpunkt der Entscheidung weder in der Bundesrepublik noch in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, sondern in Australien, den Vereinigten Staaten, im Vereinigten Königreich und in der Schweiz (Rn. 106). Damit stand Artikel 19 Abs. 3 GG, nach dem sich nur „inländische“ juristische Personen auf Grundrechte berufen können, wenn sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind, bereits der Beschwerdebefugnis im Weg (Rn. 101-104). 
Art. 19 Abs. 3 GG erfährt seit einer Entscheidung des Ersten Senats aus dem Jahr 2011 nur bei juristischen Personen mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgrund der Bindung an das allgemeine Diskriminierungsverbot in Artikel 18 AEUV eine unionsrechtlich veranlasste Anwendungserweiterung (BVerfG, 1 BvR 1916/09, Rn. 73-81). Diese Anwendungserweiterung kann vorliegend aufgrund der außereuropäischen Hauptsitze nicht greifen (Rn. 104). Zwei aus dem Vereinigten Königreich stammende Beschwerdeführerinnen können sich auch nicht auf Sonderregelungen im Brexit-Abkommen stützen, weil dort nur Rechte natürlicher Personen geregelt werden (Rn. 107). Für vier Unternehmen aus der Schweiz ergibt sich aus den Freizügigkeitsabkommen mit der Union und den Mitgliedstaaten kein anderes Ergebnis (Rn. 108). Damit könnte alles gesagt sein. Der Zweite Senat nutzt die Gelegenheit jedoch für eine Darlegung seiner Rechtsprechungslinie und in der Sache auch eine dogmatische Neuerung.

Der grundrechtliche Reservevorbehalt. ‚Solange‘ lebt, schläft aber (sehr) tief

Die Europäische Patentorganisation ist nach der ständigen Kammerrechtsprechung, die der Senat bestätigt, eine zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG und ein eigenständiges Völkerrechtssubjekt (Rn. 6). Als solches ist sie nach dem Europäischen Patentübereinkommen mit einem eigenen Rechtsschutzsystem ausgestattet. Das System der Einspruchsabteilungen, der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer stellt der Senat unter Berücksichtigung der 2016 erfolgten Strukturreform ausführlich dar (Rn. 11-24).

Eine unmittelbare Anfechtbarkeit von Organakten derartiger zwischenstaatlicher Einrichtungen vor dem Bundesverfassungsgericht scheidet grundsätzlich aus. Eine Nachprüfung vor Höchstgerichten der jeweiligen Vertragsparteien würde die Integrität der völkerrechtlichen Einrichtung und ihres Rechtsschutzsystems sonst in jedem Einzelfall unter den Generalvorbehalt einer Zweitprüfung stellen. Das liefe ihrer Aufgabenerfüllung strukturell zuwider (siehe bereits BVerfGE 149, 346 Rn. 28 f., 41, 43). Prozessual liegen somit auch keine tauglichen Beschwerdegegenstände vor, weil es nicht um Akte (deutscher) öffentlicher Gewalt im Sinne von Artikel 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und § 90 Abs. 1 BVerfGG geht.

Es bleibt der klassische ‚Solange‘-Vorbehalt, der auch der älteren Kammerrechtsprechung zum EPA zugrunde liegt. Der Zweite Senat betont seine bereits aus der Rechtsprechung zur europäischen Integration bekannte Fortexistenz (Rn. 117 f.). Solange ein dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes vergleichbares – nicht: identisches – Schutzniveau seitens der Einrichtung gewährleistet wird, sind Verfassungsbeschwerden gegen ihre Akte unzulässig. Die für die Darlegung eines solchen Unterschreitens erforderlichen Substantiierungsanforderungen werden von Beschwerdeführern kaum zu leisten sein. Maßgebend ist nämlich nicht eine einzelfallbezogene Betrachtung, sondern eine generelle, auf das jeweilige Grundrecht des Grundgesetzes bezogene. Es muss mit anderen Worten die Entwicklung des Grundrechtsschutzes auf nationaler Ebene und der zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung nicht nur strukturell gegenübergestellt, sondern auch gezeigt werden, warum letztere den vom Grundgesetz gebotenen Mindeststandard generell unterschreitet (stRspr; BVerfGE 152, 216 Rn. 47 f.; BVerfGE 102, 147 Rn. 61 f.).


Wachsamkeitsgebot der Verfassungsorgane, Wachsamkeitsobliegenheit Betroffener

Praktisch wichtiger ist ein anderer Aspekt. Das Bundesverfassungsgericht prüft auch, ob die deutschen Verfassungsorgane im Rahmen ihrer Kompetenzen darauf hinwirken, dass die grundgesetzlichen Mindeststandards nicht unterschritten werden. Dieses verfassungsrechtliche Wachsamkeitsgebot hat durchaus präventiven Charakter, weil kaum bis zu einer strukturellen Verletzung abzuwarten ist, wenn die Pflicht „zur Gewährleistung dieses Untermaßverbots“, wie der Zweite Senat hervorhebt, unmittelbar aus den jeweils in Rede stehenden Grundrechten der Grundrechtsträger folgt (Rn. 129 aE). Letztlich besteht eine kontinuierliche Beobachtungspflicht, ob ein Schutzdefizit eintritt. Für seine Beseitigung müssen deutsche Verfassungsorgane sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln einsetzen. Allerdings ist die Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflichten erst dann anzunehmen, wenn ergriffene Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (Rn. 129-131).

Hier liegt zugleich die dogmatische Neuerung der Entscheidung. Der Zweite Senat bejaht im selben Zug die Übertragung der für Artikel 23 GG und den Prozess der europäischen Integration erarbeiteten Beobachtungs- und Hinwirkungspflichten der Verfassungsorgane, die er dort aus ihrer Integrationsverantwortung ableitet, auf Artikel 24 Abs. 1 GG. Schon weil der heutige Art. 23 GG nach der Wiedervereinigung als speziell auf die Europäische Union zugeschnittene Sondernorm den seit 1949 bestehenden Art. 24 Abs. 1 GG ablöste, lässt sich die Argumentation hören (Rn. 116-119). 

Die Beschwerdeführer hatten ihre Verfassungsbeschwerden jedoch trotz Hinweisschreibens des Berichterstatters nicht auf Pflichtverletzungen der deutschen Verfassungsorgane umgestellt, sondern an der unmittelbaren Anfechtung der Akte der rechtsprechenden Einrichtungen des EPA festgehalten (Rn. 121). Ein vom Zweiten Senat daneben angesprochenes Nichtigwerden des zugrundeliegenden Zustimmungsgesetzes selbst spielte hier keine Rolle. Es würde voraussetzen, dass ein tatsächlich vorliegendes strukturelles Defizit auf das Zustimmungsgesetz selbst zurückzuführen ist oder eine Veränderung der praktischen Rahmenbedingungen zur nachträglichen Verfassungswidrigkeit führt (Rn. 132) – eine Lage, die bisher noch nie eingetreten ist und fernliegt.

Zusammengefasst verpflichten Artikel 19 Abs. 2 und 4 GG die deutschen Verfassungsorgane, ein Mindestmaß an wirkungsvollem Rechtsschutz in der Europäischen Patentorganisation sicherzustellen. Das Niveau dieses Mindestmaßes ist nicht statisch, sondern im Lichte der Entwicklung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und unter Berücksichtigung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) dynamisch zu bestimmen, kann sich also über Jahre verändern (Rn. 166). 

Potenzielle Beschwerdeführer sind damit in zweifacher Hinsicht mit einer Wachsamkeitsobliegenheit konfrontiert:

  • Sie müssen ein generelles Absinken des gewährleisteten Grundrechtsschutzes oder ein evidentes Verfehlen ausreichender Maßnahmen der deutschen Verfassungsorgane, um solchen Entwicklungen vorzubeugen und gegebenenfalls zu begegnen, identifizieren und substantiiert darlegen. 
  • Das verlangt letztlich eine wissenschaftliche Auseinandersetzung in Schriftsatzform unter Berücksichtigung der Maßgaben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Für die anwaltliche Praxis ist das aufgrund des sichtbaren Prozessrisikos wenig attraktiv und schwierig umzusetzen.

Dennoch nicht nur Theorie: ausgeräumte Zweifel

Im zugrundeliegenden Fall hatten einige Beschwerdeführerinnen bereits übersehen, dass der zu leistende Rechtsschutz in von der Bundesrepublik mitverantworteten zwischenstaatlichen Einrichtungen nicht nach Maßgabe von Art. 19 Abs. 4 GG identisch zu leisten ist, sondern es um die Verbürgung eines Mindestmaßes geht (Rn. 176). Auf die breite, EMRK und GRCh einbeziehende Maßstabsbildung des Senats zur richterlichen Unabhängigkeit, der erforderlichen Anzahl von Tatsacheninstanzen (eine reicht aus), von Unabsetzbarkeit und Verfahrensgerechtigkeit kann hier nur verwiesen werden (Rn. 133-164).

Bemerkenswert deutlich zeigt sich aber zugleich gerade hinsichtlich des EPA, dass all das nicht nur ein theoretisches Problem ist. Der Zweite Senat widmet dem Rechtsschutzsystem des EPA bis zur im Jahr 2016 erfolgten Strukturreform ein paar Absätze und lässt für die überholte Rechtslage erhebliche Zweifel durchblicken, ob das Gebot der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit der Mitglieder in den Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer gewahrt war (Rn. 169-171). Er geht jedoch davon aus, dass diese Defizite inzwischen behoben sind und eine Unterschreitung des „Mindestmaßes an wirkungsvollem Rechtsschutz nicht (mehr) trägt.“ (Rn. 172). Eine fortgesetzte Beobachtung ist für die Zukunft nach den maßstabsbildenden Aussagen ohnehin angezeigt. Rechtliche Grundlagen und ihre praktische Anwendung können und müssen sich nicht nur zum Besseren verändern, wie die Lage des Rechtsstaats in einer Reihe von Mitgliedstaaten der Union zeigt.


Ausblick und Einheitliches Europäisches Patentgericht

Der Beschluss stellt in praktischer Hinsicht für das EPA zwei Dinge klar. 
Erstens ist (inzwischen) grundsätzlich von einem dem Grundgesetz im wesentlich gleichgelagerten Grundrechtsschutz auszugehen. Neue Verfassungsbeschwerden sind derzeit nicht erfolgversprechend. Mit der Übertragung der zu Artikel 23 GG entwickelten Beobachtungs- und etwaigen Hinwirkungspflichten der Verfassungsorgane hat der Zweite Senat aber auch hier ein Wachsamkeitsgebot etabliert, das sich auf grundrechtliche Schutzpflichten stützt. Die Beeinträchtigung der Integrität des zwischenstaatlichen Rechtsschutzsystems durch eine Reaktivierung nationaler Kontrollvorbehalte setzt einen substantiierten Vortrag zur generellen Unterschreitung des grundgesetzlich gebotenen Mindeststandards voraus, oder die Darlegung, dass die deutschen Verfassungsorgane ihren Pflichten zur Behebung eines solchen gar nicht oder evident unzureichend nachgekommen sind.

Damit kann der Bogen zum Einheitlichen Europäischen Patentgericht (EPG) geschlagen werden. Verfassungsrechtlich ist es ebenfalls nicht Teil des nationalen Justizsystems, sondern ein mit Rechtsprechungsaufgaben betrautes supranationales Gericht. Aufgrund der besonderen institutionellen Nähe und Anbindung an das Recht der Europäischen Union unterfällt es verfassungsrechtlich nicht Artikel 24 Abs. 1 GG, sondern Artikel 23 Abs. 1 S. 3 GG (BVerfGE 153, 74 Rn. 143 und 157-160). 

Das EPG wird nach Arbeitsaufnahme, hier liegt die Ähnlichkeit zu den Spruchkörpern des EPA, ohne ‚eigenen‘ Grundrechtskatalog operieren. Da Vertragsparteien nur Mitgliedstaaten der Europäischen Union sein können (Artikel 84 Abs. 1 und 4 in Verbindung mit Artikel 2 lit. b des Übereinkommens über ein Einheitliches Patentgericht [EPGÜ], ABlEU C 175 v. 20.6.2013, 1) und diese wiederum Vertragsparteien der EMRK sind, liegt eine Orientierung an der EMRK als gemeineuropäischer Mindeststandard nahe (dazu und zum Anwendungsbereich der GRCh Weber AöR 147 [2022], 361 [386-389]). 

Der Beschluss des Zweiten Senats zum EPA macht deutlich, dass gegenüber dem EPG unter Art. 23 Abs. 1 GG keine anderen Strukturerwartungen bestehen als gegenüber dem EPA. Die kommende Grundrechtsrechtsprechung des EPG sieht sich so mehreren Strukturerwartungen ausgesetzt – von Höchstgerichten seiner Vertragsparteien, vom EGMR und auch dem EuGH hinsichtlich des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und der GRCh (siehe auch Art. 20 EPGÜ). Hier lauern Unwägbarkeiten im praktischen Zusammenwirken, die Wissenschaft und Praxis noch beschäftigen werden. Audiatur et altera pars ist dann nicht nur ein in jeder Rechtsordnung verankerter Grundsatz, sondern zugleich eine Voraussetzung gelingender Gerichtskooperation im erweiterten Grundrechtsraum.
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