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Recht & Verwaltung27 Mai, 2022

Traumatisierte Eltern gleich traumatisierte Kinder?

Das Wissen um Auswirkungen und Auslöser von Traumatisierung ist Voraussetzung, um bei der Bewältigung derselben besonnen handeln zu können. Unser Experte, Andreas Schulz, teilt deshalb ausführliche Hintergrundinformationen und gibt Tipps im Umgang mit traumatisierten Eltern und Kindern an die Hand.

Andreas Schulz, Psychologischer Psychotherapeut 

In Kitas können treffen Erzieherinnen auf Eltern und Kinder, die selbst zur Rettung ihres Lebens aus einem Kriegsgebiet flüchten mussten. Traumatische Erlebnisse können die Lebensgestaltung ganzer Familien beeinflussen. Noch Generationen später weisen Menschen auffällige Verhaltensweisen auf, die sich auf die traumatischen Erlebnisse ihrer Großeltern zurückführen lassen.

Was ist ein Trauma? Ein Trauma lässt sich als »ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Aufmaßes beschreiben, die bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde«. Eine weitere Definition sieht Traumata als »ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, welches mit dem Gefühl der Hilflosigkeit und schutzlosen Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis hervorruft«.

Ob eine Person traumatisiert wird und wie stark die Traumatisierung ausfällt, hängt von einer Reihe von Einflussfaktoren ab, z.B. dem individuellen Entwicklungsstand (kognitiv, emotional, sozial, neurobiologisch), der Konstellation des traumatischen Ereignisses, vorheriger Traumatisierungen, dem lebensgeschichtlichen Hintergrund, vorhandenen Schutzfaktoren (individuell, familiär) und zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien. Schutzfaktoren sind u.a. eine gute Selbstwahrnehmung, die Fähigkeit zur Selbststeuerung, soziale Kompetenz, ein unterstützendes Netzwerk, ein hohes Bildungsniveau in der Familie, eine gute Bindungsfähigkeit, enge Beziehungen zu Geschwistern, ein eigenes Wertesystem. Diese Schutzfaktoren können helfen, die tiefgreifenden Erschütterungen und seelischen Verletzungen, den Verlust von Vertrautem und Gewohntem zu bewältigen.

Traumatische Lebenssituationen

Mit Krieg und Gewalt geht eine »Zerstörung dinglichen Welt« (z.B. Häuser, Straßen, Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Strom) einher. Aus der individuellen Sicht der Betroffenen bedeutet dies eine Zerstörung ihrer Lebensbasis, ein Verlust der Heimat, den Wegfall sozialer Strukturen und eines haltenden Beziehungsnetzes, zerrissene Familien, das Erleben von Todesangst, Verfolgung, eine oft lebensgefährliche Flucht, eventuell der Tod der Eltern oder anderer Erwachsener und Kinder während der Flucht und eine ungewisse Zukunft.

Spürbar werden diese Traumata noch für die nachfolgenden Generationen, auch wenn diese die Erlebnisse »nur« aus den in den Familien gepflegten Erzählungen kennen. Emotional werden Ängste, Einstellungen zum Leben, die eigene Verwundbarkeit und die erlebte Scham, der Verlust des Vertrauens in das eigene Leben, in Beziehungen und die Welt an die Kinder unbewusst weitergereicht. Diese erleben »Risse in der Selbstverständlichkeit«, die mit Selbstabwertungen und Selbstzweifeln einhergehen und eine für sie als nächste Generation eine zunächst nicht verstehbare innere Leere hervorrufen.9 Kinder erleben die fehlenden, bzw. verschwiegenen Teile der Lebensgeschichte der Eltern als eine ständige Verletzung ihrer Psyche, als Lücke im emotionalen Empfinden.

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Traumatische Erfahrungen der Eltern wirken sich auf die ganze Familie aus

Traumatische Erfahrungen können zum zentralen Angelpunkt werden und das Denken, Fühlen, Erleben und Handeln beeinflussen. So kann in Kriegszeiten Nähe zu anderen Menschen gefährlich gewesen sein (»Wem können wir trauen?«). Distanz zu wahren war eine Form des Selbstschutzes. Diese Haltung kann sich soweit verfestigen, dass sie als prägende Überzeugung an die Kinder weitergebeben wird.

Kinder spüren die Ängste, Schamgefühle und Schuldgefühle der Eltern. Diese Erfahrungen können im weiteren Leben als Jugendliche und Erwachsene die Fähigkeit, eine eigene Paarbeziehung einzugehen, aufgrund der jahrelangen bewussten und unbewussten Botschaften der Eltern beeinträchtigen.

Traumatische Erfahrungen können aber auch dazu führen, dass Eltern ihre Kinder sehr eng an sich binden und eine altersentsprechende Entwicklung der persönlichen Autonomie ihrer Kinder eingeschränkt oder sogar über lange Zeiträume verhindert wird. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn während der Flucht ein Kind gestorben ist, nicht beerdigt und nicht betrauert werden konnte. In der Folge kann die Trauer über das verstorbene Kind zum zentralen Fixpunkt in der Familie werden und die bewusste Wahrnehmung und Förderung des überlebenden Kindes beeinträchtigen. Die in der Folge traumatischer Situationen entstandenen Lebensschemata können an die nachfolgende Generation in Form von unbewussten Ängsten weitergereicht sein. Das Schweigen in Familien über traumatische Erlebnisse (»Wir wollen nicht mehr von der schlimmen Zeit reden«) kann dazu führen, dass in späteren Generationen der biographische Zusammenhang bei auftretenden Ängsten nicht mehr bewusst ist und erst mühsam im Verlauf einer Psychotherapie erarbeitet werden muss.

Bei Problemen kommt oft zu einer Relativierung der Probleme des Kindes. Die Wichtigkeit ihres Problems wird an den traumatisierenden Erlebnissen gemessen, hinter denen alle anderen Probleme verblassen. In der Folge können sich Kinder weggestoßen und ausgeschlossen fühlen, einsam und unverstanden. Wenn Kinder über einen längeren Zeitraum dieser ständigen Abwertung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse ausgesetzt sind, kann sich bei ihnen ein dauerhaftes Gefühl der Wertlosigkeit festsetzen.

Pädagogische Interventionen

Zielgerichtete pädagogische Interventionen können helfen, die Folgen traumatischer Erlebnisse zu mindern und Kindern helfen, die für sie notwendigen Fähigkeiten für ihr eigenes Leben zu entwickeln (z.B. Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit, Aufbau eines Selbstschutzes, Entwicklung der eigenen Identität, Entwicklung und Stärkung einer kindgerechten Autonomie).

Traumatisierten Eltern können in Elterngesprächen auf Möglichkeiten professioneller Hilfe für sie als Erwachsene hingewiesen werden. Motivierend kann der Hinweis wirken, dass eine heilsame Entwicklung bei den Eltern sich entlastend, stärkend und befreiend auf ihre Kinder auswirkt.

Ein Blick auf die nächsten Generation

Die Langzeitwirkungen traumatischer Ereignisse wirken auch noch in nachfolgende Generationen hinein. Die auftretenden Symptome (z.B. Selbstzweifel) stoßen bei den Betroffenen zunächst auf Unverständnis, weil sie nicht mit der eigenen Lebensbiographie in Verbindung gebracht werden. Typische Symptome sind ein geringes Selbstwertgefühl, das sich verselbständigt hat und sich nicht durch neue Erfahrungen stärken lässt. Kinder von traumatisierten Eltern zeigen oft eine hohe Leistungsorientierung. Die erbrachten Leistungen scheinen aber nie zu genügen. Durch die starke Leistungsorientierung können andere Aspekte des Lebens wie das Erleben und Genießen von Muße und Lebensfreude oft nicht gelebt werden. Die Erfahrung der Eltern, sich unsichtbar zu machen, um im Krieg überleben zu können, tauchte in seltsam anmutenden Botschaften an ihre Kinder auf. Ein neugieriges und sportliches Kind wurde von den Eltern angehalten, nicht auf Bäume zu klettern: »Klettere nicht auf Bäume. Die Welt hier unten ist auch ganz schön.« Der Zusammenhang zwischen dieser Botschaft und der sinnvollen Lebenshaltung der Eltern während des Krieges war verloren gegangen. Das Verhalten konfliktscheuer Kinder wird manchmal erst verständlich, wenn die Lebensgeschichte der Eltern in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Familien können in ihrem Lebens mehr Gewalt und Konflikte erlebt haben als sie verkraften konnten und die Haltung entwickelt haben, Konflikten durch Rückzug aus dem Wege zu gehen. Konfliktscheue Eltern haben im Extremfall sogar Angst, den Kindern ein »Nein, das darfst Du nicht!« entgegenzuhalten und lassen ihre Kinder ins Leere gehen. Die Kinder erleben kein haltgebendes Gegenüber, die Eltern sind nicht greifbar. Das innere Maß ist verloren gegangen.

Diese Symptome können sich auch in weiteren Generationen zeigen. So können Enkel von geschlagenen und gefolterten Menschen massive Ängste entwickeln und das Bedürfnis, sich gegen (nicht vorhandene) Gewalt schützen zu müssen. Auch ein überstarker Hang zur Harmonie lässt sich auf dem Hintergrund früherer Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie verstehbar machen.

Kinder brauchen Schutz und Verständnis

Traumatische Ereignisse rufen gerade bei Kindern starke seelische und körperliche Reaktionen hervor. Kinder brauchen deshalb identitätsstiftende Elemente von Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen. Klarheit, verbunden mit einem für die Kinder spürbaren Verständnis, stärkt den Bindungsaufbau. Kinder verfügen nur ansatzweise über Fähigkeiten und Ressourcen, diese Erlebnisse seelisch zu verkraften. Sie benötigen den Schutz erwachsener Menschen, die ihnen Hoffnung und Zuversicht vermitteln. Wesentliches Ziel jedweder pädagogischer Intervention ist es, den Kindern zu helfen, aus dem Schatten des Traumas herauszutreten und sich aufzurichten, sich selbst zu spüren und wahrzunehmen, und wieder Lebenssicherheit und Autonomie zu gewinnen.10 Diese Interventionen können Kindern frühzeitig dabei helfen, etwas Distanz zu den prägenden Familienmustern zu erlangen und das Augenmerk auf sich selber (Selbstwahrnehmung, Selbstanerkennung) zu richten. Hierzu brauchen Kinder feinfühlig schützende, wachsame und achtsame Erwachsene.

Lennertz führt aus, dass »die Reaktionen der Kinder auf Kriegsereignisse wesentlich von der Reaktion der sie umgebenden Erwachsenen abhingen. So blieben die Kinder von ruhigen Müttern häufig auch sehr ruhig und zeigten keine Ess- und Schlafstörungen während der Luftangriffe. Dies verdeutlicht die Bedeutung von Bindungspersonen und ihres Verhaltens auf die Bindungssicherheit und damit auch auf die Resilienz des Kindes … und auch auf die Resilienz der Erwachsenen«.

Sichere Bindung – sicherer Schutz

Kinder benötigen Kontinuität bei den Bezugspersonen. Das Wissen um die individuellen Besonderheiten des Kindes führt über die Zeit hinweg zu einem Gefühl der Vertrautheit (»sicherer emotionaler Hafen«). Hierzu gehören Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit der Erzieherinnen gegenüber dem Kind und eine Grundhaltung wertschätzender Annahme.

Diese Grundhaltung bietet dem Kind die Grundlage, sich wieder erkundend neugierig der Welt zuzuwenden. Feinfühligkeit vermittelt einem Kind ein Gefühl von Selbstsicherheit, Motivation und Bindungssicherheit. Feinfühligkeit wirkt sich auch auf die kognitiven, sprachlichen und sozialen Fähigkeiten der Kinder aus und verbessert die Fähigkeit der Kinder, Wünsche, Gefühle und Absichten anderer Menschen zu verstehen. Traumatisierte Kinder haben ein Recht auf ihre eigenen Gefühle, auch die plötzlich auftretende Traurigkeit und Trauer. Es wird dem Kind gut tun, wenn es ermutigt wird, seine Traurigkeit zu spüren und ihm Gelegenheit gegeben wird, sich zeitweilig aus dem Kontakt mit anderen Kindern zurückzuziehen und mit sich alleine zu sein. Die Ermutigung gilt der Wahrnehmung der eigenen Gefühle und Bedürfnisse. Das Kind soll erleben, dass es ernst genommen wird. Der zeitweilige Rückzug dient dem Schutz des Kindes. Erlaubt wird eine Zeit der Stille, eine Erholung von den Anforderungen beim ständigen Kontakt mit anderen Kindern und erwachsenen Menschen.

Traumatisierte Kinder können von einem Moment zum anderen in einen kindlichen oder auch kritischen Zustand geraten. Es obliegt der Bezugsperson, auf dieses Kind blitzschnell zu reagieren, ihm zu helfen, sich zu reorientieren und ihm so ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln (rasche Wahrnehmung prompte Reaktion). Traumatisierten Kindern fällt es schwer, sich selber zu schützen. Es obliegt der Verantwortung der Erzieherinnen, Kindern diesen Schutz zu bieten, Grenzen zu wahren, und ihnen langsam Möglichkeiten des Selbstschutzes nahezubringen. Hierzu gehört auch die Fähigkeit, sich von quälenden Gedanken zu emotional zu distanzieren und zu lernen, Gedanken kommen und gehen zu lassen oder mit ihnen aktiv ins Gespräch zu kommen. Für traumatisierte Menschen ist es auch bedeutsam zu lernen, dass die Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit zu konkreten früheren Erfahrungen gehören, die jetzt aber vorbei sind (situative Zuordnung der Gefühle). Die Ängste der Eltern können dazu führen, dass sie die angemessene Autonomieentwicklung ihrer Kinder nicht richtig einschätzen können. Es ist Aufgabe der Erzieherin, z.B. einer Mutter zu verdeutlichen, dass ein fast 6-jähriges Kind durchaus in der Lage ist, selbst zu entscheiden, was es anzieht und sich auch schon selbst anziehen kann. Hiermit stärkt die Erzieherin das Selbstvertrauen des Kindes, ermutigt die Mutter, ihrem Kind mehr zu vertrauen und hilft der Mutter, eine realitätsgerechte Wahrnehmung ihres Kindes zu entwickeln. Die klare Stellungnahme für das Kind (»Ich traue ich Dir zu, dass Du schon selber weißt, was Du anziehen willst«) stärkt die Verantwortung, die das Kind für sich selber übernehmen kann.

Es stärkt das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen, wenn Kinder lernen, dem eigenen Bewegungsrhythmus zu folgen (z.B. beim Tanzen), beim Singen die Kraft der eigenen Stimme zu spüren, sich beim Malen der eigenen Kreativität und Ausdrucksfähigkeit bewusst zu werden.

Ressourcen

Persönliche Ressourcen helfen beim Aushalten der traumatischen Situation und beim Überleben. Diese Ressourcen gilt es wahrzunehmen und wertzuschätzen. Weinen in einer bedrohlichen Situation kann seelisch entlasten und helfen, wieder Mut zu fassen. Es ist sinnvoll, den Kindern Ressourcen als etwas Wertvolles und Kostbares zu vergegenwärtigen. Hierzu gehören Träume von sicheren Orten und Orten, an denen sich das Kind wohl fühlen konnte. Durch sporadisches Erzählen, im Spiel und beim Malen können Kinder immer wieder Hinweise darauf geben, was ihnen geholfen hat, das Erlebte auszuhalten.

Stärkend kann auch die bewusste Aufforderung einer Erzieherin sein, zu überlegen, ob es auch Momente gab, wo das Kind sich erlaubte zu lachen und sich zu freuen. Für Kinder kann es wohltuend sein, wenn es erlaubt ist, diese Situationen in einem kurzen Rollenspiel nachzuspielen, sich zu zeigen und noch einmal Bestätigung für die eigenen Gefühlsregungen erhalten. Es stärkt Kinder, wenn sie lernen, die Gedanken bewusst auf etwas Positives zu lenken und sich daran zu erfreuen (ein kleines Stück Schokolade genießen dürfen, einen weichen Stoff anfassen, ein Foto von lieben Menschen mitzubringen und es der Erzieherin zu zeigen) und diese Freude mit anderen zu teilen.

 

Fazit

Schutz auch den Erzieherinnen! Der Umgang mit traumatisierten Kindern und Eltern bedarf eines umfangreichen fachlichen Wissens über Traumata und ihre Folgen. Der Kontakt mit traumatisierten Menschen erfordert Kraft, sie bewusst wahrzunehmen, sie auszuhalten, ihnen angemessen zu begegnen, präsent zu sein und ihnen beiseite zu stehen. Sinnvoll ist eine gute Selbstfürsorge der Erzieherinnen. Wichtig für Erzieherinnen ist die Möglichkeit, entlastende Gespräche zu führen, an Fortbildungen teilzunehmen, eine regelmäßige Supervision. Hilfreich ist es, die eigenen Grenzen zu kennen und zu wahren.

Bildnachweis: Jonathan Stutz/stock.adobe.com
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