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Recht & Verwaltung19 Mai, 2022

10-Punkte Plan: Arbeiten mit traumatisierten Kindern

Nach einer kindlichen Traumatisierung habe ich in meiner jahrzehntelangen Arbeit einen 10-Punkte-Plan entwickelt, der sich in meiner pädagogischen und psychotherapeutischen Praxis sehr bewährt hat. Um diese Punkte zu beachten, braucht man keine spezielle Ausbildung. Die wesentliche Voraussetzung, um Kinder gut zu unterstützen, ist ein einfühlsamer und liebevoller Umgang mit verbindlicher Präsenz.

Sonja Brauner
Systemische Psychotherapiepraxis für Traumatherapie, Supervision, Krisenintervention

1. Das Kind braucht einen sicheren Ort

Nach einem traumatischen Erlebnis braucht jedes Kind einen Ort, an dem es sich uneingeschränkt sicher und geborgen fühlen kann. Alles was für das Kind belastend und bedrohlich war, darf an diesem Ort nicht mehr zugegen sein. Zuallererst muss den Personen, die dem Kind Schaden zugefügt haben, der Zutritt verweigert werden. Jeder Kontakt ruft eine erneute Traumatisierung (Retraumatisierung) hervor. Kinder dürfen keinen Täterkontakt haben! Erinnerungsstücke der Traumatisierung, wie Fotos, Kleider, Geschenke sollten nicht mehr im Gesichtsfeld des Kindes sein. Das Kind sollte einen Raum haben, um ihn selbst (oft auch mit Hilfe) zu gestalten. Unterstützende und liebevolle Erwachsene müssen an seiner Seite sein, um die schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten.

2. Das Kind braucht liebevolle und vertrauenswürdige Erwachsene

Das Kind befindet sich nach schrecklichen Erlebnissen wie im „Freien Fall“. Umso mehr braucht es liebevolle und mitfühlende Erwachsene, die Verantwortung übernehmen und es auf den nötigen Ebenen unterstützen. Am wichtigsten sind die Bindungspersonen, die dem Kind gut tun und Vertrauen geben. Die emotionale Beziehung steht im Vordergrund, genauso braucht es aber (bei Bedarf) medizinische und psychotherapeutische Unterstützung, eventuell auch juristische Hilfe. Alle Helfer*innen sollten sich gut vernetzen und professionell miteinander arbeiten. Der Fokus muss immer das Wohl des Kindes sein.

3. Das Kind braucht einen Platz, um zur Ruhe zu kommen

Nach einer Traumatisierung ist die Aufregung auf allen Seiten oftmals sehr groß. Es passiert gleichzeitig sehr viel und alle Helfer*innen versuchen das Beste zu tun. Bei allem guten Willen aber wird bisweilen übersehen, dass sich das Kind noch in einem Zustand extremer Reizüberflutung befindet. Es möchte von allem, was passiert ist, nichts mehr hören, sehen oder fühlen. Es braucht Ruhe und Schutz. Darauf sollte unbedingt geachtet werden, vor allem wenn viel Aktivität nötig ist, um Schritte in Gang zu setzen, das Kind zu schützen.

4. Das Kind braucht Stabilität und Struktur

Jedes Kind braucht Stabilität und Schutz, um gesund wachsen zu können und sich gut zu entwickeln. Sind die Grundfesten des Vertrauens aber sehr erschüttert, ist ein zusätzliches Netz an Unterstützung nötig. Traumatisierte Kinder vergewissern sich oft viel häufiger ihrer Beziehungen. „Bist Du noch da?“, „Hast Du mich lieb?“, „Beschützt Du mich?“ sind die zentralen Fragestellungen, mit denen wir umgehen müssen. Antworten wie „Das siehst Du ja“ oder „Sicher“ sind für manche Kinder zu wenig. Sie brauchen deutlich mehr Körperkontakt und Zuwendung als vorher. Ein regressives Verhalten nach schlimmen Traumatisierungen gehört zur normalen Symptomatik. Das Kind will an der Hand gehen, im Bett schlafen, die Bindungsperson im Blick haben, um wieder sein sicheres Terrain aufzubauen.

Jedes Kind braucht Stabilität und Schutz, um gesund wachsen zu können und sich gut zu entwickeln.

5. Das Kind braucht Spielangebote

Kinder, die begeistert gespielt haben, können nach einer Traumatisierung eventuell an nichts mehr Freude finden. Das Lieblingshobby verstaubt in einer Ecke, das Kind wirkt scheinbar gleichgültig. Die Motivation selbst etwas zu tun ist bisweilen zu groß und kaum überwindbar. Es braucht uns, um gemeinsam wieder Freude am Spiel zu finden. Anfangs ist es notwendig, gemeinsam mit dem Kind Spiele zu machen, die es selbst getan hat, bzw. neue Spiele auszuprobieren. Insofern ist es sehr wichtig, dass wir ein Kind unterstützen, wieder Begeisterung und Lebensfreude für unterschiedliche Spielangebote zu wecken.

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6. Das Kind braucht Zeit

Jeder Mensch hat seine eigene Zeit, um eine Traumatisierung zu verarbeiten. Symptome können sich sehr schnell oder erst nach vielen Jahren zeigen. Der Körper entwickelt sein eigenes intelligentes Modell, mit großer Belastung umzugehen. Insofern ist es sehr wichtig, nichts beschleunigen zu wollen, wo ein Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Lassen sie dem Kind Zeit, sein Tempo zu entwickeln. Es wird deutlich zeigen, wann und welche Unterstützung es braucht.

7. Das Kind braucht einen Platz, der das Geschehene nicht bewertet

Ein Kind ordnet für sich seine Traumatisierung mit seinem kindlichen Verständnis ein. Wir als Erwachsene sehen die Tragweite und das Geschehene viel deutlicher. Ebenso können wir die Folgen für sein weiteres Leben anders beurteilen. Sehr wichtig ist jetzt, dem Kind gegenüber keine Bewertungen abzugeben. Es lebt im Hier und Jetzt. Aussagen in Bezug auf Folgeschäden können es sehr ängstigen. Eine zeitliche Perspektive haben jüngere Kinder noch nicht entwickelt. Es ist sehr wichtig, ihm seine Zeit zu lassen, um eigene Bewertungskriterien zu entwickeln.

8. Das Kind braucht Normalität

So schrecklich das Erlebte war, das Leben geht weiter – im Kindergarten, in der Schule, in der Freizeit. Normalität und Alltag stabilisieren und geben Halt. Kinder, die traumatisiert sind, brauchen gerade das sehr dringend. Außerdem ist eine natürliche und altersadäquate Behandlung nötig, die sich nicht oder nur wenig von der von Gleichaltrigen unterscheidet. Keinem Kind tut eine sehr exponierte Position gut. Kinder wollen in der Gruppe mit ihren Freunden spielen und sich entwickeln.

9. Das Kind braucht nach Bedarf therapeutische Angebote

Nicht jedes Kind braucht sofort ein therapeutisches Angebot. Oftmals ist ein Judoverein hilfreicher, um Selbstbewusstsein aufzubauen, der Fußballclub, den die Freunde besuchen und Halt geben oder die Jungschar im Ort, die Stabilität gibt, die bessere Alternative zur Therapie. Alltagsstabilisierung, das sich-in-der-Welt-wiederfinden sind die wichtigsten und ersten Schritte, damit ein Kind seine Traumatisierung verarbeiten kann. Natürlich sollte es immer Therapieangebote geben, wenn sich Symptome zeigen, die im Alltag hinderlich sind und das Kind einen Leidensdruck spürt und dringend eine professionelle Unterstützung braucht. Aber nicht für alle Kinder ist sofort die therapeutische Begleitung das Richtige. Keinem Kind tut eine sehr exponierte Position gut. Kinder wollen in der Gruppe mit ihren Freunden spielen und sich entwickeln.

10. Das Kind braucht Geduld

Kinder zeigen ihre traumatische Symptomatik sehr unterschiedlich. Oftmals ist sie sehr versteckt und wird nicht verstanden. Vergesslichkeit wie auch Vermeidungstaktik können Hinweise sein. Vergessene Hausübungen, Kleidungsstücke, die nicht mehr auffindbar sind, Ängstlichkeit, wo nie Angst bestanden hat, sind einige Symptome, die Erwachsene oft zum Verzweifeln bringen. Das Allerwichtigste ist viel Geduld. Im Gehirn wird nach einer Traumatisierung alles umgebaut und es braucht Zeit, Liebe und Geduld, bis wieder alles an einem guten Platz ist.

Fazit

„Jedes Kind ist einzigartig und verfügt über einzigartige Potenziale zur Ausbildung eines komplexen, vielfach vernetzten und zeitlebens lernfähigen Gehirns. Ob und wie es ihm gelingt, diese Anlagen zu entfalten, hängt, wie die neueste Gehirn- und Bindungsforschung zeigt, ganz wesentlich davon ab, ob ein Kind ein Gefühl von Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit in intensiven Beziehungen zu unterschiedlichen Menschen entwickeln kann. Sind solche optimalen Entwicklungsbedingungen vorhanden, lernt es neue Situationen und Erlebnisse nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung zu bewerten, und die in seinem Gehirn angelegten Verschaltungen auszubauen, weiterzuentwickeln und zu festigen.” (vgl. Prof. Hüther: Die Bedeutung emotionaler Sicherheit für die Entwicklung des kindlichen Gehirns, In: Kinder brauchen starke Wurzeln. Karl Gebauer/Gerald Hüther, 2005, S.5 ff).

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