Wenn das Bundeswirtschaftsministerium die 11. GWB-Novelle als „größte Reform des Kartellrechts seit Ludwig Erhard“1 bezeichnet, so ist das eher qualitativ als quantitativ gemeint. Ist das Eigenlob gerechtfertigt? Wir werfen einen Blick auf die wichtigsten Säulen der Novelle: Die Einführung der §§ 32f und 32g sowie die Änderungen bei § 34 GWB.
Dr. Werner Berg, LL.M. und Prof. Dr. Gerald Mäsch
1. § 32f GWB: Kartellrechtliche Sanktionen ohne Kartellverstoß
Der neue § 32f GWB schafft die Möglichkeit, ohne Feststellung eines Kartellrechtsverstoßes(!) Abhilfemaßnahmen aller Art zu verhängen und, als ultima ratio, die eigentumsrechtliche Entflechtung von Unternehmen anzuordnen.
Das Gesetzesvorhaben hatte sehr fundamentale Kritik ausgelöst2 und (berechtigte!) Zweifel an der Verfassungs-3 und EU-Rechts-Konformität4 der Vorschrift hervorgebracht. Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens vom ersten Referentenentwurf bis zum beschlossenen Gesetz hat die Vorschrift zahlreiche Änderungen erfahren, die ihr viel von der ursprünglichen Schärfe nahmen, sie aber auch näher an die Voraussetzungen des Grundgesetzes und der Europäischen Verträge bringen. Zu nennen sind insbesondere die neu eingeführte Qualifizierung der Adressaten, die Subsidiaritätsklausel und die Entschädigungsregeln in Absatz 4.
Rein praktisch darf man Sinn und Nutzen des § 32f GWB – den Absatz 2 mal ausgenommen, in dem der frühere § 39a GWB mit Erweiterungen der Anmeldepflicht von Zusammenschlüssen aufgeht – durchaus in Zweifel ziehen. Laut Referentenentwurf zielt das neue Instrumentarium auf Störungen in stark konzentrierten bzw. oligopolistischen Märkten ab, die im Rahmen von Sektoruntersuchungen identifiziert, aber bislang nicht wirksam behoben werden konnten.5 Welche Märkte das sein könnten und ob die neuen Kompetenzen dafür erforderlich oder geeignet sind, wurde nicht geklärt. Lediglich in Gutachten der Monopolkommission finden sich zarte Hinweise auf konkrete, mögliche Einsatzgebiete der neuen Eingriffsbefugnisse, namentlich bezogen auf Raffineriemärkte.6 Hier hat das Bundeskartellamt im April 2022 eine Ad-hoc Sektoruntersuchung gemäß § 32e Absatz 1 GWB der Raffinerie- und Großhandelsebene für Kraftstoffe eingeleitet und im November 2022 einen Zwischenbericht veröffentlicht.7 Das Bundeskartellamt stellt darin ausdrücklich fest, dass das Ausmaß der Weitergabe von Steuersenkungen nur sehr bedingt „ein geeigneter Indikator dafür (ist), ob und in welchem Ausmaß in einem Markt Wettbewerbsprobleme bestehen“.8 Es ist auch nicht ersichtlich, wie die (angebliche) Nichtweitergabe der temporären Absenkung der Energiesteuer vom 1. Juni bis 31. August 2022 („Tankrabatt“) auf die Endverbraucher, die den Kontext für den Erlass des § 32f GWB darstellte, mit einem Eingriff auf dessen Basis behoben werden könnte.9
Auch darüber hinaus ist nicht zu erkennen, wo gerade in Deutschland konkreter Bedarf für den Einsatz der neuen Vorschrift besteht. Im Gegenteil: Die Europäische Kommission hat in ihrer im Juni 2024 veröffentlichten umfassenden Marktstudie „Protecting competition in a changing world - Evidence on the evolution of competition in the EU during the past 25 years“ ausdrücklich festgestellt, dass die durchschnittliche Marktkonzentration in Deutschland – nicht zuletzt wegen effizienter Kartellrechtsdurchsetzung – bemerkenswert gering („remarkably low“) ist.10 Bezeichnenderweise ist das Bild für das Vereinigte Königreich, dessen „Market Regime“ als Vorbild für die neuen Kompetenzen in § 32f GWB diente11, ein ganz anderes: Dort haben sich die Wettbewerbsfaktoren im Untersuchungszeitraum erheblich verschlechtert12 und ist heute eine besonders hohe Marktkonzentration zu beobachten.13 Hinzu kommt, dass im Vereinigten Königreich ärmere Haushalte relativ stärker von Marktkonzentration betroffen sind als wohlhabendere, weil sie einen größeren Teil ihres Budgets auf konzentrierten Märkten ausgeben.14
Das Bundeskartellamt hatte die Einführung der neuen Kompetenzen auch nicht gefordert. Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes, stellt diplomatisch fest, dass „die neuen Befugnisse allerdings die Chance [bieten], verkrustete Wettbewerbsstrukturen aufzubrechen und dadurch überhaupt erst wieder den Wettbewerb zu ermöglichen.“15 Ob seine Behörde dann tatsächlich die Kapazitäten hat und Anwendungsfelder finden wird, um die neuen Befugnisse und ihre verfassungs- und europarechtlichen Grenzen auszutesten, steht in den Sternen. Und selbst wenn, sind die Voraussetzungen für ihre Anwendung hoch und der Weg bis zur Abhilfemaßnahme weit.16 Nicht die besten Rahmenbedingungen, um § 32f GWB einen nachhaltigen praktischen Effekt zu prophezeien.
2. § 32g GWB: Ermittlungen des Bundeskartellamts gegen Torwächter wegen Verstößen gegen das Gesetz über digitale Märkte: Nur gucken, nicht beißen!
§ 32g GWB gibt dem Bundeskartellamt eine Ermittlungsbefugnis bei möglichen Verstößen gegen die Artikel 5 bis 7 der Verordnung (EU) 2022/1925 (Gesetz über digitale Märkte; „DMA“). In Artikel 38 Absatz 7 DMA ist vorgesehen, dass nationale Behörden für solche Untersuchungen in ihrem Hoheitsgebiet zuständig erklärt werden und entsprechende Untersuchungsbefugnisse haben sollen. Der DMA ergänzt das Wettbewerbsrecht und soll dafür sorgen, dass digitale Märkte trotz der Marktstärke großer Digitalkonzerne „bestreitbar und fair“ sind. Dazu werden Betreiber besonders bedeutender zentraler Plattformdienste mit erheblichem Einfluss auf den Binnenmarkt von der Kommission als sog. Torwächter benannt (Art. 3 DMA). Für sie gelten dann die besonderen und vielfältigen Verpflichtungen der Art. 5 bis 7 DMA. Obwohl die Kommission als einzige Behörde zur Durchsetzung des DMA befugt ist, „sollten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, ihre für die Durchsetzung von Wettbewerbsvorschriften zuständigen nationalen Behörden zu ermächtigen, Untersuchungen zur möglichen Nichteinhaltung von bestimmten Verpflichtungen nach dieser Verordnung durch Torwächter durchzuführen“ (Erwägungsgrund 91 des DMA). Dies könnte, so derselbe Erwägungsgrund weiter „insbesondere in Fällen von Bedeutung sein, in denen nicht von vornherein festgestellt werden kann, ob das Verhalten eines Torwächters eine Zuwiderhandlung gegen diese Verordnung, gegen Wettbewerbsvorschriften, zu deren Durchsetzung die zuständige nationale Behörde befugt ist, oder gegen beides darstellen könnte.“ Nach § 32g Abs. 3 erstattet das Bundeskartellamt der Kommission über die Ermittlungen Bericht; sobald die Kommission ein Verfahren einleitet, ist die Untersuchung des Bundeskartellamtes beendet (Artikel 38 Abs. 7 UA 2 S. 1 DMA). Das Bundeskartellamt wird so zum berichtspflichtigen Handlanger an der kurzen Leine der Kommission. Allerdings halten sich unsere Bedenken insoweit in Grenzen, zeigt doch die Erfahrung, dass das Bundeskartellamt zwar selbstbewusst seine eigenen Befugnisse ausübt, aber ein durchweg guter Mannschaftsspieler im Reigen der europäischen Kartellbehörden ist.
3. § 34 Abs. 4 GWB: Gewinnabschöpfung leicht gemacht
Der Gesetzgeber hat zudem einen Versuch unternommen, der – ob ihrer praktischen Bedeutungslosigkeit bislang zu Recht als Papiertiger17 verschmähten – kartellbehördlichen Vorteilsabschöpfung in § 34 GWB die dringend benötigten Klauen und Zähne zu verpassen. Steht die grundsätzliche Sinnhaftigkeit der Vorteilsabschöpfung als neben Bußgeld und Schadensersatz tretende dritte Sanktionsform für Wettbewerbsverstöße auch außer Frage, galt dies bislang nicht für ihre praktische Einsetzbarkeit. Probleme bereitete stets die Ermittlung des abzuschöpfenden wirtschaftlichen Vorteils aus dem Kartellverstoß, die einen Vergleich zu einem hypothetischen Alternativszenario ohne Kartellverstoß erfordert. Trotz detaillierter Vorgaben des BGH18 und des Einsatzes aufwändiger ökonometrischer Analysetechniken sowie der Möglichkeit der Schätzung der Vorteilshöhe gem. § 287 ZPO ist das Verfahren seit jeher mit erheblichen Unsicherheiten verbunden (insb. hinsichtlich der Bestimmung des hypothetischen Marktpreises und dessen möglichen Auswirkungen auf die Absatzzahlen). Diese Unsicherheiten sind so groß, dass es das Bundeskartellamt bislang noch nie (!) geschafft hat, den abzuschöpfenden Vorteil gerichtsfest zu bestimmen.19
Gegensteuern soll nunmehr eine komplexe Beweislastregelung in § 34 Absatz 4 GWB. Es wird zunächst das Vorliegen eines auf dem Kartellverstoß beruhenden wirtschaftlichen Vorteils („Ob“) und sodann dessen Mindesthöhe bei einem Prozent des inländischen Umsatzes mit den kartellbefangenen Produkten oder Dienstleistungen in den letzten fünf Jahren vermutet (Absatz 4 Satz 4, Absatz 5 S. 1). Ausgeschlossen ist die Vermutung auf der einen Seite nur in den sehr seltenen Fällen, in denen der Täter denknotwendig keinen Vorteil aus seinem Kartellverstoß gezogen haben kann, und gedeckelt ist der abzuschöpfende Betrag andererseits bei zehn Prozent des Konzernumsatzes in dem der Behördenentscheidung vorausgegangenen Geschäftsjahr. Zwar klingt die somit grds.im Grundsatz unterstellte und abzuschöpfende Kartellrendite von einem Umsatzprozent nicht nach viel. Die Vermutung bekommt aber ein besonderes Gewicht dadurch, dass die Möglichkeiten zu ihrer Widerlegung drastisch eingeschränkt sind. Ausdrücklich erklärt Absatz 4 S. 6 den Gegenbeweis für unbeachtlich, dass tatsächlich kein wirtschaftlicher Vorteil oder ein Vorteil in nur geringerer Höhe angefallen ist; erfolgversprechend ist nach S. 7 allein der Nachweis, dass das Unternehmen oder der Gesamtkonzern (!), zu dem es gehört, weltweit (!) im fraglichen Zeitraum keinen Gewinn erzielt hat, der die Höhe eines inländischen tatbezogenen Umsatzprozents erreicht. Das dürfte allenfalls in Verlustjahren und damit im Regelfall nicht gelingen. Kurz: Die neue Vorteilsabschöpfung wird zu einem scharfen und leicht handhabbaren Schwert in der Hand der Kartellbehörden. Insbesondere im Bereich der Missbrauchsaufsicht nach § 19 GWB wird ihr deshalb schon jetzt eine steile Karriere vorausgesagt.20
4. Fazit
Das Fazit ist gemischt: Die Änderungen in § 34 GWB versprechen in der Tat, der Vorteilsabschöpfung durch das Bundeskartellamt neues Leben einzuhauchen. § 32g ergänzt den DMA und sollte der Kommission die Dienste des Bundeskartellamts als bekanntermaßen guten Mannschaftsspielers sichern. Vor allem der große Wurf des § 32 f wird sich aber erst in der Praxis beweisen müssen: bislang fehlendes zusätzliches Personal, die sehr aufwändige Anwendung und Bedenken gegen die Verfassungs- und Unionsrechtskonformität lassen an der großen Zukunft der Vorschrift zweifeln, auch wenn andere EU-Mitgliedstaaten wie Dänemark und die Niederlande bereits die Einführung ähnlicher Befugnisse erwägen. Aus unserer Sicht war schon ihre Erschaffung eine Fehlallokation gesetzgeberischen Aufwands, sollte man doch zumindest wissen, warum man eine neue, so weitreichende Vorschrift erschafft.
Fußnoten
1 So etwa Sven Giegold, zuständiger Staatssekretär im BMWK: https://sven-giegold.de/wettbewerbsrecht-reform/.
2 Guter Überblick bei Kühling/Engelbracht/Welsch, WuW 2023, 250, 250f.
3 S. Ackermann, ZWeR 2023, 1, 16-18.
4 S. Kruse/Maturana, EuZW 2022, 798.
5 Referentenentwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz vom 15. September 2022: Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Wettbewerbsstrukturen und zur Abschöpfung von Vorteilen aus Wettbewerbsverstößen (Wettbewerbsdurchsetzungsgesetz). S. 1.
6 Gutachten der Monopolkommission gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 GWB: Wettbewerb 2022; XXIV. Hauptgutachten, Rn. 111 und Abbildung I.32. Für den Bereich Kokerei und Mineralölverarbeitung hatte die Monopolkommission die mit Abstand höchsten Preisanstiege ermittelt. S. allerdings auch S. 6 desselben Gutachtens, wo die Monopolkommission „Insgesamt […] für die Unternehmenskonzentration in Deutschland weiterhin keinen besorgniserregenden Trend und damit keinen unmittelbaren wettbewerbspolitischen Handlungsbedarf“ sieht.
7 Ad-hoc Sektoruntersuchung Raffinerien und Kraftstoffgroßhandel, Zwischenbericht, Az. B8-47/22, November 2022.
8 Ad-hoc Sektoruntersuchung Raffinerien und Kraftstoffgroßhandel, Fn. 7, S. 5.
9 Für den politischen Kontext s. Ackermann, ZWeR 2023, 1, 3-5 und Franck, NJW 2024, 246 Rn. 2-3.
10 Kommission, Protecting competition in a changing world - Evidence on the evolution of competition in the EU during the past 25 years, Luxemburg 2024, S. 44, 113f.
11 Gesetzentwurf der Bundesregierung—Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen und anderer Gesetze („Regierungsentwurf“), BT-Drs. 20/6824, S. 18f.
12 Kommission, Protecting competition in a changing world; Fn. 10, S. 18 Fn. 19, S. 25 Fn. 40.
13 Kommission, Protecting competition in a changing world; Fn. 10, S. 31, 40.
14 Kommission, Protecting competition in a changing world; Fn. 10, S. 42.
15 Mundt, NZKart 2023, 1, 3.
16 Für einen Versuch unter genauer Analyse des britischen Vorbilds der Vorschrift (UK Market Regime) mögliche Anwendungsgebiete zu ermitteln s. Bonné/Berg/Kramer/Adams/Spangenberger, ECLR 2024, S. 132, 145f.
17 von Schreitter/Sura, BB 2023, 2691 (2692).
18 BGH, 28.06.2005 – KRB 2/05, NJW 2006, 163 [164] = wistra 2006, 33 – Berliner Transportbeton-Kartell.
19 Vgl. Immenga/Mestmäcker/Emmerich, § 34 GWB Rn. 7.
20 von Schreitter/Sura, BB 2023, 2691 (2698).