Restschuldbefreiung
Recht & Verwaltung29 August, 2024

Jenseits von Karlsruhe: 6 Mythen der Restschuldbefreiung

Autor:in: Rechtsanwalt Prof. Dr. Jens M. Schmittmann

Immer wieder hört man bestimmte Aussagen zur Restschuldbefreiung. Auf den ersten Blick wirken sie überzeugend. Doch was steckt dahinter?

I. Einleitung

Im Insolvenzverfahren über das Vermögen der natürlichen Person steht – zumindest für den Schuldner – häufig die Erteilung der Restschuldbefreiung im Vordergrund. Zwar dient das Insolvenzverfahren gem. § 1 Satz 1 InsO dazu, die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen, andererseits ist in § 1 Satz 2 InsO ausdrücklich vorgesehen, dass dem redlichen Schuldner Gelegenheit gegeben wird, sich von seinen restlichen Verbindlichkeiten zu befreien. Die Einzelheiten zur Erteilung der Restschuldbefreiung sind in §§ 286 ff. InsO geregelt.

Die Restschuldbefreiung kommt nur für natürliche Personen in Betracht, die einen eigenen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt haben und vor Verfahrenseröffnung die Erteilung der Restschuldbefreiung beantragt haben.

Im Zusammenhang mit der Restschuldbefreiung stellen sich verschiedene praxisrelevante Fragen, die Gegenstand des nachfolgenden Beitrages sind.

II. Die sechs Mythen der Restschuldbefreiung

Immer wieder hört man in der Praxis bestimmte kurze und knappe Aussagen zur Restschuldbefreiung, die auf den ersten Blick überzeugend wirken, aber bei näherer Betrachtung einer Nachprüfung an Gesetz und Rechtsprechung nicht standhalten.

1. »Restschuldbefreiung gibt es nur einmal im Leben.«

Die knappe Aussage, dass die Restschuldbefreiung nur einmal im Leben erteilt wird, findet keine Stütze im Gesetz. Die Restschuldbefreiung wurde mit der Einführung der Insolvenzordnung zum 01.01.1999 geschaffen, um hoffnungslos verschuldeten natürlichen Personen einen Ausweg aus dem „modernen Schuldturm“ zu verschaffen.1 Damit knüpft der deutsche Gesetzgeber an Regelungen an, die z.B. in Hamburg und Bremen in den vergangenen Jahrhunderten bereits die Restschuldbefreiung ermöglichten.2

Eine Begrenzung der Restschuldbefreiung ist gesetzlich nicht vorgesehen, allerdings sind die Sperrfristen zu beachten. Gem. § 287a Abs. 2 Nr. 1 InsO ist der Antrag auf Restschuldbefreiung unzulässig, wenn dem Schuldner in den letzten elf Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag Restschuldbefreiung erteilt oder wenn ihm die Restschuldbefreiung in den letzten fünf Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag wegen einer rechtskräftigen Verurteilung wegen Bankrotts zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen oder einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten verurteilt worden ist.

Zudem ist der Antrag gem. § 287a Abs. 2 Nr. 2 InsO unzulässig, wenn dem Schuldner in den letzten drei Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag die Restschuldbefreiung nach § 290 Abs. 1 Nr. 5 InsO (Verletzung der Auskunfts- oder Mitwirkungspflichten), Nr. 6 InsO (unrichtige oder unvollständige Angaben in den Verzeichnissen), Nr. 7 InsO (Verstoß gegen die Erwerbsobliegenheit nach § 287b InsO) oder nach § 296 InsO (Verstoß gegen Obliegenheiten in der Wohlverhaltensphase) versagt worden ist.

2. »Die Restschuldbefreiung erfasst nur angemeldete Forderungen.«

Die pauschale Behauptung, dass die Restschuldbefreiung nur angemeldete Forderungen erfasst, ist unrichtig. Gem. § 286 InsO wird der Schuldner nach Maßgabe der §§ 287 bis 303a InsO von den im Insolvenzverfahren nicht erfüllten Verbindlichkeiten gegenüber den Insolvenzgläubigern befreit. Es ist daher irrelevant, ob der Gläubiger seine Forderung angemeldet hat oder nicht. Die Restschuldbefreiung erstreckt sich allerdings lediglich auf die Insolvenzgläubiger i.S.v. § 38 InsO, also die Gläubiger, die einen zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner hatten. Die Restschuldbefreiung müssen gem. § 301 Abs. 1 Satz 2 InsO auch die Insolvenzgläubiger gegen sich gelten lassen, die nicht am Verfahren teilnehmen.3

3. »Der Schuldner bekommt immer nach drei Jahren Restschuldbefreiung.«

Die Behauptung, dass Restschuldbefreiung immer nach drei Jahren erteilt wird, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu.

Für Insolvenzverfahren, die ab dem 01.10.2020 beantragt worden sind, gilt nach dem Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht vom 22.12.2020 (BGBl. I 2020, S. 3328 ff.) eine Verkürzung der Abtretungsfrist auf drei Jahre, was der Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie der Europäischen Union in das deutsche Recht geschuldet ist. War dem Schuldner auf Grundlage eines nach dem 30.09.2020 gestellten Antrages bereits einmal Restschuldbefreiung erteilt worden, so beträgt die Abtretungsfrist gem. § 287 Abs. 2 Satz 2 InsO in einem erneuten Verfahren fünf Jahre.

Für Insolvenzanträge sowie Anträge auf Erteilung der Restschuldbefreiung, die zwischen dem 17.09.2019 und dem 30.09.2020 gestellt worden sind, gilt gem. Art. 103k Abs. 2 EGInsO eine Sonderregelung, nach der die Abtretungsfrist zwischen fünf Jahren und sieben Monaten und vier Jahren und zehn Monate beträgt.

In Insolvenzverfahren, die vor dem 17.12.2019 beantragt worden sind, gilt die Abtretungsfrist von sechs Jahren, wobei Restschuldbefreiung bereits nach drei Jahren erteilt wird, wenn die Kosten des Verfahrens in voller Höhe und die Forderungen der Insolvenzgläubiger i.H.v. 35 % gedeckt sind (§ 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO a.F.). Nach fünf Jahren war die Restschuldbefreiung gem. § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 InsO a.F. zu erteilen, wenn die Verfahrenskosten gedeckt waren.

4. »Das Finanzamt kann nach der Restschuldbefreiung weiter Steuern vollstrecken.«

Diese Aussage ist ebenfalls verkürzt. Die Möglichkeit der Finanzverwaltung, nach Erteilung der Restschuldbefreiung weiter Steuern zu vollstrecken, hängt von der Einordnung der zu vollstreckenden Steuerverbindlichkeiten ab.

Die Restschuldbefreiung umfasst lediglich die Insolvenzforderungen gem. § 38 InsO. Nach der Rechtsprechung des BFH4 werden Masseverbindlichkeiten von einer Restschuldbefreiung nicht erfasst. Steuerschulden, die als Masseverbindlichkeiten entstanden sind, können nach Abschluss des Insolvenzverfahrens mit Erstattungsansprüchen des ehemaligen Insolvenzschuldners verrechnet werden. Der Verrechnung stehen eine dem Insolvenzverfahren immanente sog. Haftungsbeschränkung bzw. eine Einrede der beschränkten Haftung des Insolvenzschuldners nicht entgegen. Auch der BGH5 sieht den Insolvenzschuldner inzwischen als Schuldner der Masseverbindlichkeiten an.

Zudem werden gem. § 302 Nr. 1 InsO Verbindlichkeiten des Schuldners aus einem Steuerschuldverhältnis von der Restschuldbefreiung nicht berührt, sofern der Schuldner im Zusammenhang damit wegen einer Steuerstraftat nach den §§ 370, 373 oder 374 AO rechtskräftig verurteilt worden ist. Das Finanzamt darf nach der Auffassung des BFH6 durch Feststellungsbescheid gem. § 251 Abs. 3 AO feststellen, dass ein Steuerpflichtiger im Zusammenhang mit Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis wegen einer Steuerstraftat rechtskräftig verurteilt worden ist, wenn der Schuldner diesem Umstand isoliert widersprochen hat.

Schließlich kann der Finanzverwalter nach Erteilung der Restschuldbefreiung sog. insolvenzfreie Verbindlichkeiten vollstrecken, die der Schuldner nach Verfahrenseröffnung selbst begründet hat (sog. »Neuverbindlichkeiten«). Dies ist steuerlich in der Regel der Fall, wenn der Schuldner im Rahmen einer freigegebenen Tätigkeit Steuerverbindlichkeiten auflaufen lässt oder aber es für seine Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit zu Nachforderungen kommt.7

5. »Nach Erteilung der Restschuldbefreiung ist die Forderung erloschen.«

Die Behauptung, dass mit Erteilung der Restschuldbefreiung die Forderung erlischt, ist unzutreffend. Schon aus dem Wortlaut des § 286 InsO ergibt sich, dass der Schuldner von den im Insolvenzverfahren nicht erfüllten Verbindlichkeiten gegenüber den Insolvenzgläubigern „befreit“ wird. Dies entspricht auch der Formulierung in § 1 Satz 2 InsO, wonach dem Schuldner Gelegenheit gegeben wird, sich von seinen restlichen Verbindlichkeiten »zu befreien«.

Gem. § 301 Abs. 1 Satz 1 InsO wirkt die Restschuldbefreiung gegen alle Insolvenzgläubiger, die Insolvenzforderungen wandeln sich zu sog. »Naturalobligationen«. Die Restschuldbefreiung führt nach der Rechtsprechung des BGH8 nicht zum Erlöschen der von ihr betroffenen Forderung. Die Forderung ist weiterhin erfüllbar, aber die Erfüllung ist nicht erzwingbar.9

Aus dieser Erkenntnis heraus ist es konsequent, dass § 301 Abs. 3 InsO vorsieht, dass sich keine Pflicht zur Rückgewähr des Erlangten ergibt, wenn ein Gläubiger befriedigt wird, obwohl er auf Grund der Restschuldbefreiung keine Befriedigung zu beanspruchen hat. Auch die Rechte der Insolvenzgläubiger gegen Mitschuldner und Bürgen gem. § 301 Abs. 2 InsO verdeutlichen, dass die Forderung des Gläubigers gerade nicht erloschen ist.

6. »Die Restschuldbefreiung hat keine steuerlichen Folgen.«

Dass die Restschuldbefreiung keine steuerlichen Folgen hat, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Entsteht durch die Erteilung der Restschuldbefreiung ein Ertrag, so ist dieser gem. § 3a Abs. 5 EStG steuerfrei. Dies gilt ebenso für einen Schuldenerlass auf Grund eines außergerichtlichen Schuldenbereinigungsplanes zur Vermeidung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens gem. §§ 304 ff. InsO oder auf Grund eines Schuldenbereinigungsplans im Verbraucherinsolvenzverfahren.

Von der Steuerfreiheit des Sanierungsertrages selbst ist aber die Frage des Untergangs von steuerlichen Verlusten zu unterscheiden, die sich auf die Höhe der Einkommensteuerlast des Schuldners auswirkt. Die Erteilung der Restschuldbefreiung im Rahmen eines Insolvenzverfahrens stellt für die Ermittlung des Gewinns aus einer Betriebsaufgabe nach der Auffassung des BFH10 auch dann ein rückwirkendes Ereignis dar, wenn der Betrieb erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgegeben worden ist. Erfolgt die Betriebsaufgabe nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, so sind die aus der Restschuldbefreiung resultierenden Steuern Masseverbindlichkeiten i.S.d. § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO.

Da die Finanzverwaltung früher eine andere Auffassung vertreten hat, wird nunmehr dem Schuldner aus Gründen des Vertrauensschutzes die Möglichkeit gegeben, die erteilte Restschuldbefreiung nicht als rückwirkendes Ereignis zu behandeln, wenn der Betrieb nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens und vor Veröffentlichung der Verwaltungsanweisung des BMF11 aufgegeben wurde bzw. als aufgegeben gilt.

Sofern der Betrieb vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgegeben wurde bzw. als aufgegeben gilt, kann der Steuerpflichtige bei Betriebsaufgaben vor dem 08.08.2017 entsprechend verfahren.12

III. Fazit

Bei Lichte betrachtet sind zahlreiche Aussagen zur Erteilung der Restschuldbefreiung, die man gelegentlich hört, nicht zutreffend. Manchmal haben diese Mythen einen historischen Hintergrund, manchmal resultieren sie aus dem Unverständnis des Zusammenspiels zwischen Insolvenz- und Steuerrecht.

Es ist daher in jedem Fall zweckmäßig, tradierte Auffassungen zu überdenken und ggf. durch Recherche in Rechtsprechung und Literatur zu ermitteln, wie die Rechtslage tatsächlich ist.

1, So Balz, Insolvenzverfahren für Verbraucher?, ZRP 1996, 12 ff.
2, Vgl. Schmittmann/Theurich/Brune, Das insolvenzrechtliche Mandat, 5. Aufl., Bonn, 2017, § 6 Rn. 209.
3, Vgl. Kexel, in: Graf-Schlicker, InsO, 6. Aufl., Köln, 2022, § 286 InsO Rn. 6.
4, Urt. v. 28.11.2017 – VII R 1/16, BFHE 260, 26 ff. = Verbraucherinsolvenz aktuell 2018, 46 ff. mit Anm. Schmittmann.
5, Urt. v. 28.01.2021 – IX ZR 54/20, ZRI 2021, 245 ff.
6, Urt. v. 28.06.2022 – VII R 23/21, ZRI 2022, 867 ff. = EWiR 2022, 751 f. [Schmittmann]; Urt. v. 07.08.2018 – VII R 24, 25/17, BFHE 262, 208 ff. = BStBl. II 2019, 19 ff.
7, Vgl. BFH, Urt. v. 24.02.2011 – VI R 21/10, BFHE 232, 318 ff. = BStBl. II 2011, 520 ff.
8, Urt. v. 10.12.2020 – IX ZR 24/20, NZI 2021, 184 ff. = InsbürO 2021, 128 ff.
9, So BGH, Beschl. v. 18.06.2020 – IX ZB 46/18, WM 2020, 1313 ff. Rn. 19.
10, Urt. v. 06.04.2022 – X R 28/19, ZRI 2023, 23 ff. = BB 2023, 218 ff. mit Anm. Schmittmann; BFH, Urt. v. 13.12.2016 – X R 4/15, BFHE 256, 392 ff. = BStBl. II 2017, 786 ff.
11, Schreiben v. 08.04.2022 – IV C 6 – S 2242/20/10002:001, BStBl. I 2022, 632 ff.
12, Vgl. Busch/Heckmann, Restschuldbefreiung und Sanierungsgewinn oder rückwirkend in die zweite Insolvenz, InsbürO 2023,
17 ff.; Busch/Heckmann, Die Rückwirkung der Restschuldbefreiung und deren steuerliche Auswirkungen, InsbürO 2023, 221 ff.

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