von Ingo Hamm
Recht & Verwaltung20 September, 2021
Messen ist nicht Verstehen
Dateninstrumente fördern unzweifelhaft die vielgepriesene quantitative Transparenz. Doch grundlegendes Wissen über das in seinen natürlichen Wesenszügen geradezu paradigmatisch qualitative menschliche Verhalten geht darüber mehr und mehr verloren. Droht diese so modische wie bedrohliche Entwicklung derforcierten Quantifizierung des Menschen nun auch an Schulen?
Seit Beginn der Digitalen Revolution bilden Key Performance Indicators (»KPI’s«), Kennzahlen-Cockpits und People Analytics in einer stetig, wenn nicht unaufhaltsam wachsenden Anzahl von Wirtschaftsunternehmen, die Arbeitsbasis für unzählige Verantwortliche in Personalabteilung und Mitarbeiterführung.
Wir kennen die nahezu totale Quantifizierung aus dem Wirtschaftsleben. Was will man auch von einem Bereich der Gesellschaft erwarten, der sich anscheinend dem zweifelhaften Dictum verschrieben hat:
»You can’t manage what you can’t measure.« Grob übersetzt: Du kannst nur managen, was du auch messen kannst.
Dieses Bonmot wird häufig William Edwards Deming unterstellt, dem Begründer des Total Quality Managements, der sich jedoch viel zu gut mit Zahlen auskannte, um so etwas zu behaupten. Ganz im Gegenteil äußerte er sich anlässlich einer Diskussion der sieben Todsünden des Managements eher ablehnend über die bloße Idee, ein Unternehmen »rein nach Zahlen« führen zu wollen:
»Nothing becomes more important just because you can measure it. It becomes more measurable, that’s all.« Nichts wird, bloß weil man es messen kann, wichtiger – es wird lediglich messbar.
Warum grassiert dann eine solche Quantifizierungshysterie in der Wirtschaft, dass sie bereits auf das Privatleben übergreift (Stichworte Quantified Self, Smartwatches, Schrittzähler, Pulsuhren) und nun droht, sich nicht zuletzt im Zuge der forcierten Digitalisierung des Unterrichts auch auf Schulen auszubreiten?
Metrik macht, was Metrik kann. Ob das, was sie kann, ihre Nutzer weiterbringt, überlässt sie ihnen selbst. Oft sind es die Metriker und Empiriker selbst – sofern sie einmal Schüler waren oder Kinder haben –, die den Nutzen ihrer eigenen verdienten Disziplin im Klassenraum schwer in Frage stellen. Eine Kollegin zum Beispiel, versiert in mehr quantitativen Verfahren »als auf eine Kuhhaut passen«, pickt sich als Standardbeispiel der Illustration gerne die einfach messbare Lautstärke im Klassenraum heraus und fragt sich und uns: Was sagt nun die gemessene Lautstärke in der Klasse über die Qualität meines Unterrichts aus? 75Dezibel können eine massive, tumultartige Störung bedeuten, aber auch einen kurzzeitigen Gipfel der euphorischen Begeisterung der Klasse, wobei beide Interpretationen gegensätzlicher nicht sein könnten. Der Algorithmus, spätestens die KI wird schon die richtige Interpretation treffen?
Vermessen, um zu verstehen
Quantifizierung an sich ist nichts Böses – sofern man den Karren nicht vor das Ross spannt. Zahlen können helfen, wenn man sie denn helfen lässt und nicht als Verstehenssurrogat betrachtet. Zahlen können helfen, Kundinnen und Kunden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Schülerinnen und Schüler und Menschen generell, mit denen man es in Beruf und Alltag zu tun hat, besser zu verstehen, um sie damit besser zu behandeln. Vermessen, um zu verstehen, ist ein vielversprechendes Rezept, das die Prioritäten einhält: Vermessung ist die Magd, nicht die Herrin des Verstehens. Und niemand würde sich beklagen, wenn wir unsere Schülerinnen und Schüler noch besser verstehen würden – am aller wenigsten die Schülerinnen und Schüler selbst.
Seit Beginn der Digitalen Revolution bilden Key Performance Indicators (»KPI’s«), Kennzahlen-Cockpits und People Analytics in einer stetig, wenn nicht unaufhaltsam wachsenden Anzahl von Wirtschaftsunternehmen, die Arbeitsbasis für unzählige Verantwortliche in Personalabteilung und Mitarbeiterführung.
Wir kennen die nahezu totale Quantifizierung aus dem Wirtschaftsleben. Was will man auch von einem Bereich der Gesellschaft erwarten, der sich anscheinend dem zweifelhaften Dictum verschrieben hat:
»You can’t manage what you can’t measure.« Grob übersetzt: Du kannst nur managen, was du auch messen kannst.
Dieses Bonmot wird häufig William Edwards Deming unterstellt, dem Begründer des Total Quality Managements, der sich jedoch viel zu gut mit Zahlen auskannte, um so etwas zu behaupten. Ganz im Gegenteil äußerte er sich anlässlich einer Diskussion der sieben Todsünden des Managements eher ablehnend über die bloße Idee, ein Unternehmen »rein nach Zahlen« führen zu wollen:
»Nothing becomes more important just because you can measure it. It becomes more measurable, that’s all.« Nichts wird, bloß weil man es messen kann, wichtiger – es wird lediglich messbar.
Warum grassiert dann eine solche Quantifizierungshysterie in der Wirtschaft, dass sie bereits auf das Privatleben übergreift (Stichworte Quantified Self, Smartwatches, Schrittzähler, Pulsuhren) und nun droht, sich nicht zuletzt im Zuge der forcierten Digitalisierung des Unterrichts auch auf Schulen auszubreiten?
Man tut, was man kann
Eine mögliche Antwort könnte sein: Wir tun tendenziell vieles, weil wir es tun können – und nicht, weil es vordringlich, nützlich oder auch nur nötig wäre. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte hatten wir mehr Daten über unser Leben zur Verfügung; der Digitalisierung sei Dank. Nun hat die Corona-Pandemie der Digitalisierung, die an Schulen im Vergleich zur Wirtschaft bislang eher zögerlich verlief, eine ungeahnte Beschleunigung beschert. Noch dient sie, sofern sie überhaupt technisch funktioniert und auf Seiten der Schülerinnen und Schüler auf sinnvolle Hardware trifft, hauptsächlich der Aufrechterhaltung des Unterrichts im Wechsel oder auf Distanz. Doch auch in den Unternehmen der Wirtschaft erfüllte die digitale Technologieeinst auf den ersten Blick einleuchtende Funktionen, bevor sie den Menschen vollumfänglich als Datenobjekterschloss, durchleuchtete, dokumentierte und ihn auf Basis dieser Zahlen zu steuern versuchte. Warum sollte ausgerechnet das weite Feld der Bildung von dieser Irradiation des Quantitativen ausgenommen bleiben?Digital oder dystopisch?
m Vergleich zur drohenden Schüler-Quantifizierung nehmen sich Diskussionen zu Themen wie »Wozu noch Noten in der Schule?« geradezu vorgestrig aus. People Analytics ist nicht auf Noten angewiesen, da sie das komplette Leistungsprofil und die ganze psychologische Persönlichkeitsstruktur eines Menschen samtminutiösem Verhaltensprofil anhand von mehr Inventaren vermessen kann, als ein Familientherapeut aufzählen könnte. Diese exakte Vermessung einer Klasse, quasi das GPS für die Schülerseele, diese kundengenaue Quantifizierung jeglicher persönlicher Parameter sind keine Dystopie, sondern lediglich Ausdruck der technischen Gegebenheiten. Es drohen weniger die gläsernen, als die geröntgten Schüler/-innen; die im wahrsten Sinne des Wortes dauercomputertomographierte Schüler-/innen. Skeptik erhalten diese Ausbreitung des Zahlenwahns von der Wirtschaft auf die Bildung für weit hergeholt. Und gewiss: Wir reden hier über eine Prognose, ein Szenario. Doch die historische Analogie hilft uns über eine anfängliche Skepsis hinweg.Es war einmal: Der Fußball
In ferner Vergangenheit war Fußball ein Spiel, bei dem 2 mal 11 Menschen hinter einer Lederkugel herjagten. Inzwischen ist etwas passiert, das der durchschnittliche Sportschau-Zuschauer vor 10 Jahren kaum erahnt hätte: Der Fußball ist quantifiziert. Die Vermessung des Spiels (ein schönes Oxymoron) ist komplett und wird pro Ausstrahlung in aller statistischen Detailversessenheit zelebriert anhand von Pro-Kopf-Angaben zugelaufenen Kilometern, gewonnenen und verlorenen Zweikämpfen, Fehlpässen, Fouls, Laufwegen in Prozentangaben, Torschüssen und noch vieles mehr – ohne dass dafür ein Trainer zu Stoppuhr und Klemmbrett greifen müsste. Das machen inzwischen (fast) alles die Algorithmen. Warum? Weil die Algorithmen das können. Ist das Spiel dadurch besser geworden? Oder auch nur dessen Kommentierung in Radio und TV? Jeder Sportbegeisterte kennt die Antwort. Die Quantifizierung hat dem Spiel zwar nicht die Seele geraubt, wie extreme Kritiker meinen, doch mit Spielidee und -verlauf hat sie nicht viel zu tun. Dazu ein Extrembeispiel.Schülerflüsterer – nicht Statistiker
Die Startrainer der Welt und aller Teamsportarten sind nach eigenem Bekunden und auch im Fremdurteil weder Statistiker noch IT-Spezialisten. Im Gegenteil: Sie demonstrieren fast zutiefst menschliche Qualitäten, die rein qualitativer Natur sind. Sie sind »Teamflüsterer«. Sie sind weniger Psychometriker als Psychologen. Sie vermessen ihre Spieler und das Spiel weniger als dass sie beide verstehen – und vor allem verstehen wollen. Sie wissen und praktizieren intuitiv: Vermessen heißt nicht Verstehen. Vermessen ist kein Verständnissurrogat und noch nicht einmal eine Verständnisapproximation, sondern leider oft genug das Gegenteil: ein untauglicher Ersatz für Verstehen. Freud erzielte seine erzieherischen Erfolge mit einer Couch und nicht mit einer Excel-Tabelle. Warum sollte sich das geändert haben? Weil die Zeit inzwischen vorangeschritten ist? Jene Metropole, in welcher sie am schnellsten voranschritt, ist New York. Und bei keinem der dortigen Psychotherapeuten steht neben der Couch ein Computer.Verstehen ist besser als Vermessen
Man kann in Unternehmen die Mitarbeiter vermessen und in Schulen die Schülerinnen, Schüler, Lehrer und Lehrerinnen – aber nicht ihre Seelen, ihren Charakter, ihre Befindlichkeiten und vielfältigen Motive. Selbstwenn man es könnte – und die unaufhaltsame Metrik der Algorithmen wird das eines Tages auch schaffen: Man sollte das genauso wenig zur Basis von Psychologie und Pädagogik im Klassenraum machen wie der Fußballtrainer seine Spielstatistik zur Basis der Betreuung und Entwicklung seiner Spieler macht. Was gut ist für den Fußball sollte mindestens genauso gut für die Schule sein. Einmal ganz davon abgesehen, dass selbst die valideste und reliabelste Statistik an die natürlichen Grenzen ihres Wirkungsbereiches stößt: Statistik kann nicht, was Statistik nicht kann.Was Statistik nicht kann
Empirie kann zum Beispiel Erfolg ex post messen, aber ex ante prognostizieren? Das kann sie immer noch nicht genau und zuverlässig; siehe Fußball: Ballbesitz ist eben kein Erfolgsgarant. Selbst wenn es ein quantitatives Erfolgsrezept für Fußball gäbe – würden es dann nicht längst, sagen wir, alle Champions League-Teilnehmer praktizieren? Und selbst wenn die Noten des letzten Jahres einer Durchschnittsschülerin zusammen mit weiteren weitaus stärker ausgeklügelten quantitativen Indikatoren ihrer Person erfasst und in den Algorithmus gefüttert würden, um ihren schulischen Erfolg im neuen Schuljahre valide prognostizieren zu können, würde da nicht mindestens die Hälfte von der realen Wirklichkeit der Schülerin aus der digitalen Wirklichkeitsabbildung herausfallen? Was ist zum Beispiel mit der Interaktion im Klassenraum? Spielt sie für den Lernerfolg und persönliche Entwicklung keine Rolle? Was ist mit der wechselhaften Gruppendynamik, den mannigfachen Tendenzen der Kommunikation, den vernetzten Interdependenzen des Sozial-, Freundes-& Familienkreises? Daran scheitert bislang und auf absehbare Zeit selbst die beste Statistik.Metrik macht, was Metrik kann. Ob das, was sie kann, ihre Nutzer weiterbringt, überlässt sie ihnen selbst. Oft sind es die Metriker und Empiriker selbst – sofern sie einmal Schüler waren oder Kinder haben –, die den Nutzen ihrer eigenen verdienten Disziplin im Klassenraum schwer in Frage stellen. Eine Kollegin zum Beispiel, versiert in mehr quantitativen Verfahren »als auf eine Kuhhaut passen«, pickt sich als Standardbeispiel der Illustration gerne die einfach messbare Lautstärke im Klassenraum heraus und fragt sich und uns: Was sagt nun die gemessene Lautstärke in der Klasse über die Qualität meines Unterrichts aus? 75Dezibel können eine massive, tumultartige Störung bedeuten, aber auch einen kurzzeitigen Gipfel der euphorischen Begeisterung der Klasse, wobei beide Interpretationen gegensätzlicher nicht sein könnten. Der Algorithmus, spätestens die KI wird schon die richtige Interpretation treffen?