Autor:in Dr. Nick Marquardt
Paukenschlag aus Karlsruhe! Die Feststellung, dass ein Richterspruch gegen das Willkürverbot verstößt, liest man selten. [1] Das gilt erst recht, wenn sie im Zusammenhang mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens steht. Grund genug, sich die Entscheidung und deren Folgen einmal genauer anzusehen.
I. Ausgangslage am Amtsgericht
Schon der handschriftliche Nichtabhilfevermerk, wonach die Beschwerdeführerin die Rechtslage verkenne, ist rein prozessual schwer nachvollziehbar. Das Gericht setzt seine eigene Rechtsauffassung über die des Gerichts, das noch über die Einsprüche oder die Klagen gegen die jeweiligen Vollstreckungsbescheide – die es wohl gegeben haben wird – zu entscheiden hat. Nun ist die Prognose über den Ausgang eines laufenden oder noch erwarteten Rechtsstreits im Insolvenzeröffnungsverfahren naturgemäß für alle Beteiligten schwierig. Die Auffassung des Gerichts dürfte mit einer grds. vorsichtigen Bewertung der Sach- und Rechtslage hinsichtlich von streitigen Forderungen aber kaum zu vereinbaren sein.[2] Richtig ist nur, dass die in § 14 InsO vorausgesetzte Glaubhaftmachung der dem Insolvenzantrag zugrunde liegenden Forderung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des Insolvenzgrundes genügen lässt.[3] Ein Vollbeweis ist nicht erforderlich. Dabei ist aber die Einlassung des Schuldners gegen die dem Insolvenzantrag zugrundeliegende Forderung, bei der Glaubhaftmachung vollumfänglich zu berücksichtigen.[4] Das gilt besonders, wenn wie hier die Vollstreckungsbescheide scheinbar aufgrund eines betrügerischen Verhaltens der Antragsteller erlangt wurden. Wo die Anordnung existenzvernichtender insolvenzrechtlicher Verfügungsbeschränkungen im Raum steht, kann man aber eben auch nicht das Bestehen der Forderungen des Gläubigers unterstellen. Die Eröffnungsentscheidung und die Nichtabhilfeentscheidung des AG kann man aber vielleicht noch als "Ausrutscher im Tagesgeschäft" abtun, da in der Praxis regelmäßig Fälle vorkommen, in denen Schuldner (völlig haltlos) das Bestehen einer dem Fremdantrag zugrunde liegenden Forderung bestreiten. Tatsächlich stellt sich das in den meisten Fällen bei genauerer Begutachtung oft als reine Schutzbehauptung dar, um das Insolvenzeröffnungsverfahren zu verzögern oder eine Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu verhindern.
Insoweit kann man dem AG Hamburg allein wohl jedenfalls noch keine Willkür i.S.v. Art. 3 Abs. 1 GG unterstellen. Gleichzeitig kann man aus praktischer Sicht nicht oft genug betonen, dass die Prüfung der Zulässigkeit und Zulassung des Insolvenzantrags ureigenste Aufgabe des Insolvenzgerichts ist. Die Prüfung muss grds. vorgelagert ohne Hinzuziehung und Beteiligung des Gutachters erfolgen. Erst, wenn weitere Ermittlungen (z.B. zum Sitz) erforderlich werden, kann auf einen Gutachter zurückgegriffen werden.[5] Insolvenzanträge aber ungesehen an den Gutachter weitergeben, ist ein erhebliches Risiko. Die Prüfung der Rechtslage ist nicht Aufgabe des Gutachters, auch wenn Ausführungen dazu regelmäßig erfolgen werden und sich gelegentlich für eine ordnungsgemäße Prognose der Verfahrenskostendeckung nicht vermeiden lassen. Problematisch wird es allerdings, wenn das Gericht einen Gutachter einschaltet, der das Gericht darauf hinweisen soll, dass dem Insolvenzantrag bspw. keine ordnungsgemäße Gläubigerliste beigefügt ist. Solche schwerwiegenden Zulässigkeitsmängel, die sich ohne zusätzliche Ermittlungen aus dem Insolvenzantrag selbst ergeben, muss das Gericht selbst prüfen. Die "Begutachtung" solcher Fragen ist schon aufgrund der zusätzlichen Kosten, die (im Fall der Abweisung mangels Masse) der Staatskasse anfallen, unbedingt zu vermeiden.
II. Zulässigkeit und Begründetheit
Wer aber glaubte, dass die Entscheidung von drei Berufsrichtern am LG Hamburg Abhilfe schafft, wird ziemlich enttäuscht. Man darf nicht vergessen, dass die Regelungen der InsO Inhalts- und Schrankenbestimmungen von Art. 14 Abs. 1 GG sind.[6] Der Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis gem. § 80 Abs. 1 InsO durch die Eröffnungsentscheidung des Insolvenzgerichts liegt im öffentlichen Interesse, entspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und steht auch im Einklang mit dem übrigen Verfassungsrecht.[7] Das LG Hamburg ist der Auffassung, dass die Zulässigkeit des Insolvenzantrags dahinstehen könne, solange gleichwohl Zahlungsunfähigkeit vorliege und der Antrag demzufolge begründet sei. Diese gelegentlich auch im allgemeinen Zivilprozess anzutreffende Auffassung eines "Dahinstehens der Zulässigkeit" war noch nie richtig, denn die Wirkungen der Rechtskraft sind jeweils völlig andere.[8] Ist die Klage (oder wie hier der Insolvenzantrag) unzulässig, beschränkt sich die materielle Rechtskraft eines Prozessurteils nur auf denselben prozessualen Mangel, aber nicht auf den übrigen Streitgegenstand.[9] Deshalb erwächst auch die Abweisung einer Klage als gleichzeitig unzulässig und unbegründet nur hinsichtlich der fehlenden Zulässigkeit in Rechtskraft; sie ist aber hinsichtlich der Entscheidung über die Unbegründetheit für die Rechtskraft unbeachtlich.[10] Die fehlende Zulässigkeit "blockiert" gewissermaßen, dass hinsichtlich der Begründetheit Rechtskraft eintreten kann. Das "Dahinstehenlassen" mag an anderen Stellen der Entscheidungsbegründung – besonders bei unerheblichem Tatsachenvortrag oder Rechtsausführungen – elegant sein. Bei der Zulässigkeit und Begründetheit ist es das nicht. Dass das LG Hamburg dann offenbar kontextlos höchstrichterliche Rechtsprechung zur Rechtfertigung dieser gänzlich fernliegenden Auffassung zitiert, offenbart auch ein zweifelhaftes Systemverständnis. Völlig zu Recht schreitet das BVerfG hier ein. Der Willkürvorwurf ist verdient.
III. Folgen der Aufhebung
Schwierig zu beurteilen sind auch die Folgen der Entscheidung des BVerfG, denn die sofortige Beschwerde war offensichtlich begründet, weil der Insolvenzantrag unzulässig war. Demzufolge müsste der Eröffnungsbeschluss aufgehoben werden. Das Insolvenzverfahren wurde aber schon mit Beschl. v. 20.8.2020 eröffnet. Mittlerweile sind etwas über 3 Jahre seit der Eröffnungsentscheidung vergangen. Der Insolvenzverwalter hat zwischenzeitlich wahrscheinlich alle Anfechtungs- und Geschäftsführerhaftungsansprüche geltend gemacht und einen Großteil seiner Abwicklungstätigkeiten vollzogen. Die Vergütung des Insolvenzverwalters ist somit bereits überwiegend verdient. Er muss auch im Fall einer Aufhebung des Eröffnungsbeschlusses im Beschwerdeverfahren ordnungsgemäß Schlussrechnung legen.[11] Dem Insolvenzverwalter steht hinsichtlich seiner Vergütung sogar ein Zurückbehaltungsrecht gem. § 273 BGB gegenüber dem Schuldner zu.[12] Der Insolvenzverwalter ist auch nicht für fehlerhafte Eröffnungsbeschlüsse verantwortlich. Er hat seine Leistungen erbracht. Wie soll aber die wirtschaftliche Lage der Schuldnerin hier je wiederhergestellt werden? Man mag sich mit dem Gedanken trösten, dass die vom Gutachter festgestellte Zahlungsunfähigkeit ja ohnehin bestand und die Geschäftsführer ggf. ohnehin zur Antragstellung verpflichtet gewesen wären. Das ändert aber nichts daran, dass die Anträge der Gläubiger unzulässig waren und es letztlich dem Schuldner bzw. den Geschäftsführern obliegt, wann sie einen Insolvenzantrag stellen.
Insbesondere der Umgang mit schon beigetriebenen und ggf. rückabzuwickelnden Anfechtungsansprüchen dürfte eine Herausforderung werden. Denkbar ist hier, dass sie gem. § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB an die Anfechtungsgegner zu erstatten sind, denn ohne wirksamen Eröffnungsbeschluss gibt es keinen Rechtsgrund für die Leistungen der Anfechtungsgegner an den Insolvenzverwalter. Hier sind noch viele Detailfragen zur Rückabwicklung offen. Hier (wie in vielen anderen Fällen) rächt sich, dass die Bearbeitung deutlich zu lange gedauert hat. Bereits das Beschwerdegericht hat über ein Jahr zur Bearbeitung benötigt (Nichtabhilfe v. 22.10.2020, Beschwerdeentscheidung am 24.10.2021). Das BVerfG hat seinerseits knappe 2 Jahre zur Bearbeitung benötigt. Beides ist für Insolvenzeröffnungsverfahren deutlich zu lang. Hier standen auch keine komplizierten Tatsachen- oder Rechtsfragen im Raum, die eine so lange Bearbeitungsdauer hätten rechtfertigen können.
IV. Was bleibt?
Im Ergebnis wird sich früher oder später die Frage stellen, wer die eingetretenen Schäden der Schuldnerin ersetzen muss, denn klar ist, dass die Schuldnerin nicht regresslos für die Vergütung und die angefallenen Gerichtskosten haften kann. Der Insolvenzverwalter wird auch nicht selbstlos auf seine Vergütung verzichten. Es stehen Ansprüche gem. § 839 BGB aus Staatshaftung im Raum. Die Unvertretbarkeit der Entscheidung als wesentliche Voraussetzung steht jedenfalls bereits durch die Entscheidung des BVerfG fest.[13] Fehler dürfen aber nicht erst durch das BVerfG aufgedeckt werden, denn rein tatsächlich kam diese Hilfe für die Schuldnerin hier wohl deutlich zu spat.
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1 Vgl. aber u.a. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats v.28.7.2014 – 1 BvR 1925/13, Rn. 1 – 18, BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats v. 31.7.2023 – 2 BvR 1014/21, Rn. 1 – 48.
2 BeckOK-33. Edition, Stand 15.10.2023/Wolfer, § 17 Rn. 7; vgl. Uhlenbruck/Mock, InsO, § 17 Rn. 85, der streitige Verbindlichkeiten grds. berücksichtigen will, aber bei Ungewissheit ebenfalls einen Bewertungsabschlag einstellen will.
3 K. Schmidt/Gundlach, InsO, § 14 Rn. 19.
4 BGH, ZInsO 2009, 1533; K. Schmidt/Gundlach (Fn.3), § 14 Rn. 19.
5 Vgl. dazu BeckOK-33. Edition, Stand 15.10.2023/Madaus, § 3 Rn. 21, der unterscheidet zwischen Prüfung von Amts wegen und Ermittlungspflicht von Amts wegen.
6 BVerfGE 51, 405, 408 [BVerfG 18.07.1979 - 1 BvR 655/779]; dazu auch BeckOK-33. Edition, Stand 15.10.2023/Riewe/Kaubisch, § 80 Rn. 3 m.w.N.
7 BVerfG, NJW 1979, 2510 ff.
8 BGH, NJW 2008, 1227 ff. [BGH 16.01.2008 - XII ZR 216/05]
9 Musielak/Musielak, ZPO, § 322 Rn. 45 f.
10 BAG, NZA 2017, 593 BAG 15.06.2016 - 4 AZR 485/14] Rn. 42; Musielak/Musielak (Fn. 9), § 322 Rn. 46.
11 HambKomm-10. Aufl. 2024/Denkhaus, § 34 Rn. 28.
12 HambKomm-10. Aufl. 2024/Denkhaus, § 34 Rn. 28.
13 Vgl. BGH, NJW 1970, 1544 ff. [BGH 12.06.1970 - V ZR 145/67]