Die juristische Recherche befindet sich im Umbruch. Neue technologische Entwicklungen wie Legal Analytics, Predictive Analytics und Prescriptive Analytics führen die juristische Arbeit in die digitale Zukunft. Johannes Klostermann, Head of Innovation and User Experience, und Christian Hartz, Legal Engineer bei Wolters Kluwer Deutschland, erklären die Techniken und ihre Auswirkungen auf die anwaltliche Arbeit.
Die Beziehung zwischen Anwalt und Mandant beginnt zumeist damit, dass der Mandant dem Juristen per E-Mail einen Fall schildert oder ihm diesen telefonisch mitteilt und der Anwalt eine Aktennotiz über den Gesprächsverlauf erstellt. Eine weitere Möglichkeit ist, dass der Mandant gleich ein Aktenkonvolut an den Anwalt sendet. So unterschiedlich diese Situationen auch klingen, letztlich erhält der Anwalt immer natürlichsprachliche Texte, die im nächsten Schritt weiterverarbeitet werden müssen. Häufig folgt eine Recherche dazu, wie die Rechtsprechung zu diesem Thema aussieht, was in Kommentaren und Handbüchern dazu zu finden ist. Schließlich kommt es darauf aufbauend zur Entwicklung einer Strategie, um den vom Mandanten gewünschten Erfolg zu erreichen.
Die bisherige Situation
Bisher ist es der Anwalt gewohnt, den Sachverhalt zusammenzufassen, zu durchdringen und eine Suche mit bereits vorgefertigten Suchworten in einer Datenbank durchzuführen. Auf diese Weise startet die Recherche und in vielen Fällen endet sie damit auch schon, da es nicht auf Anhieb gelingen wird, das passende Dokument zu finden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Beispielsweise wurden manche Rechtsprobleme zwar in einem ähnlichen Fall gelöst, allerdings in einem anderen Rechtsgebiet, wodurch dies in der Suche nicht ohne größeren Aufwand berücksichtigt werden konnte.
Juristische Datenbanken gibt es bereits seit rund 30 Jahren im Markt. Bei wachsender Informationsflut wird es jedoch immer komplizierter, sie zu bedienen, und man sucht nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Mit Hilfe von Suchbegriffen erfolgt bereits eine Abstrahierung vom Sachverhalt, die auf wechselseitigen Annahmen basiert. Suchmaschinenanbieter und Nutzer müssen raten, welche Art von Sachverhalt mit welchen abstrakten (in der Regel rechtlichen) Begriffen wohl beschrieben wird. Das führt zu einer großen Unschärfe in der Zusammenführung von Problem und Lösung, die sich in unspezifischen Trefferlisten mit wenig relevanten Treffern ausdrückt. Einige Top-Treffer werden immer wieder nach oben gespült, auch wenn sie lediglich die rechtliche Basis darstellen, nicht aber die Spezifika eines Falls.
Das Problem würde sich für klassische Suchmaschinen weiter verstärken, wenn die Justiz (endlich) den Forderungen nach einer flächendeckenden Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen nachkommen würde. Derzeit werden jährlich annähernd 50.000 Entscheidungen auf den einschlägigen Datenbanken veröffentlicht. Allerdings stehen dem rund 3,1 Millionen beendete erstinstanzliche Verfahren gegenüber, an deren Ende in der Regel ebenfalls ein Dokument vorliegt. Es werden also nur rund 1,3 Prozent aller Ausgänge von Verfahren als Dokument veröffentlicht. Da bereits viele Fachleute fordern, dass alle Entscheidungen veröffentlicht werden, muss sich die Suche verändern.
Enorm hilfreich wäre es, wenn die Recherche einfach direkt aus einem durchgängigen Workflow heraus durchgeführt werden könnte und die verschiedenen Argumente zu den Problemen des Sachverhaltes passend präsentiert würden. Außerdem würde es die Arbeit des Anwalts sehr erleichtern, nur mit zum vorliegenden Sachverhalt passenden Dokumenten konfrontiert zu werden, statt sich mit Trefferlisten zu befassen, die Hunderte von Dokumente enthalten.
Der Weg in die Zukunft: Legal Analytics, Predictive Analytics und Prescriptive Analytics
Eine Antwort auf die genannten Probleme können neuere Recherchemöglichkeiten mit Hilfe von Legal Analytics, Predictive Analytics oder Prescriptive Analytics sein. Doch was genau steckt dahinter?
Legal Analytics
Legal Analytics wird häufig als automatisiertes Verfahren verstanden, in dem Nutzereingaben oder auch Dokumente der Rechtsprechung analysiert werden, um hieraus Informationen zu ziehen und aufzubereiten. Ein einfaches Beispiel ist eine Visualisierung von Entscheidungshäufigkeiten an verschiedenen Gerichtsstandorten zu ganz speziellen Themen.
Man kann dem Nutzer in einem weitergehenden Schritt „ähnliche Dokumente“ vorschlagen. Die Ähnlichkeit bezieht sich hier nicht auf einfache Textähnlichkeit, sondern kann deutlich darüber hinausgehen. Beispiele können das Dokumente sein, die denselben Sachverhalt teilen, dieselbe rechtliche Argumentation verfolgen, die genau gegenteilige Argumentationen vertreten oder Dokumente mit einem ganz anderen Sachverhalt, aber einem ähnlichen Problem.
Schließlich kann man aber auch aus den Tiefen des Dokumentes Informationen entnehmen, die viel wertvoller sind, wie zum Beispiel, wenn man direkt Argumente passend zu einem bestimmten Sachverhalt extrahiert und dem Nutzer ausgibt. Das könnte wie folgt funktionieren: Die Argumentation von Entscheidungen der Gerichte folgen einem grundsätzlichen Schema. Es gibt einen Sachverhalt, den das Gericht aus den Schriftsätzen der Parteien zusammenschreibt. Diese dort enthaltenen Fakten geben den tatsächlichen Rahmen wieder, in dem sich die Entscheidung abspielt. Daneben findet man Sätze in den Entscheidungen, in denen die Gerichte abstrakte Rechtsausführungen machen, die ziemlich leicht auf andere Fälle übertragen werden können. Schließlich werden diese abstrakten Rechtsausführungen dann jedoch auch wieder auf den konkreten Fall angewendet, sodass es einen Bezug zum Sachverhalt gibt, den das Gericht bereits beschrieben hat. Kombiniert man dies mit dem generellen Tenor, lässt sich erkennen, in welche Richtung sich die Argumentation für oder gegen eine Partei bewegt. Aus all diesen Informationen kann man mit einem passenden Modell die Argumente für den Sachverhalt des Nutzers extrahieren und genau das anbieten, was benötigt wird, um den Fall zu lösen.
Predictive Analytics
Einen Schritt weiter geht Predictive Analytics. Die Bedeutung von Predictive Analytics nimmt in unserer Welt und insbesondere in der Wirtschaft immer mehr zu. Predictive Analytics verwendet historische Daten, um zukünftige Ereignisse vorherzusagen. Hierbei geht es darum, dass zusätzlich zu der Auswertung (über Legal Analytics) auch Prognosen erstellt werden können. Es wird auf Basis der analysierten Entscheidungen berechnet, wie in einem anstehenden Fall entschieden werden könnte. Das geschieht durch die Sachverhaltseingabe des Nutzers, die zu Beginn beschrieben wurde. Diese Sachverhaltsbeschreibung wird mit den Fakten, die sich beispielsweise im Tatbestand einer Gerichtsentscheidung oder der Anwendung der Rechtsnormen auf den Sachverhalt (also der eigentlichen Subsumtion des Gerichtes) befindet, verglichen, um so die Erfolgswahrscheinlichkeit des eingegebenen Sachverhaltes zu berechnen.
Prescriptive Analytics
Der letzte Schritt ist Prescriptive Analytics. Hierbei geht es darum, dem Nutzer Möglichkeiten aufzuzeigen, die ergriffen werden können, um das „berechnete Ergebnis“ zu erreichen. Es werden also beispielsweise die besten Argumente vorgeschlagen, die in einer ganz speziellen rechtlichen Situation am besten funktionieren. Es bleibt natürlich die Aufgabe des Juristen, diese Argumente zu sichten, zu prüfen und für die eigene Strategie zu verwenden. Hierbei kann die Technologie jedoch unterstützen, insbesondere dann, wenn sie direkt in den Workflow integriert ist.
Mit jeder der gezeigten Techniken verändert sich die juristische Recherche weiter. Sie bewegt sich mehr zum tatsächlichen Fall hin und kann basierend auf dem Sachverhalt spezifischere und relevantere Inhalte aufdecken. Außerdem ermöglicht sie die direkte Arbeit mit Argumenten, um damit konkrete rechtliche Ziele zu erreichen. Dabei wird bereits in der Recherche eine Erfolgsprognose ermöglicht, die das Herausarbeiten der Strategie deutlich unterstützt. Noch besser wird all dies, wenn der riesige Fundus an Gerichtsentscheidungen und damit Fallkonstellationen veröffentlicht wird, den die Gerichte jedes Jahr verhandeln.
Über die Autoren
Johannes Klostermann ist seit April 2017 Head of Innovation & User Experience bei Wolters Kluwer Deutschland. In dieser Funktion ist er für die Entwicklung innovativer Produktkonzepte für die digitale Transformation von Rechtsanwälten, Unternehmensjuristen und der öffentlichen Verwaltung verantwortlich. Sein besonderes Interesse gilt der Anwendung von Human Centered Design in der Schnittstelle zwischen Recht und IT.
Christian Hartz ist seit Januar 2019 Legal Engineer bei Wolters Kluwer Deutschland. Er ist von Hause aus Jurist und arbeitet in seiner Funktion direkt an der Schnittstelle von Rechtswissenschaft und Informatik.