Durch Corona steckt die Rechtsbranche plötzlich mitten in einem der größten Transformationsprozesse der letzten Jahrzehnte, und dieser vollzieht sich in einem Tempo und mit einer Konsequenz, an die noch vor einem halben Jahr niemand geglaubt hätte. Deutschlands Anwaltschaft wird digital. Hanny Vonderstein, Global Productmanager Document Application im Geschäftsbereich Legal Software von Wolters Kluwer Deutschland, berät und begleitet Kanzleien auf ihrem individuellen Weg der Digitalisierung. Hier hat sie ihre Eindrücke der vergangenen Wochen zusammengefasst und gibt eine Einschätzung der weiteren Entwicklung.
Die Rechtsbranche hat sich in Deutschland mit dem Thema Digitalisierung schwergetan. Obwohl erprobte und sichere Lösungen seit langem vorhanden sind und deren Einsatz nachweislich auf allen Ebenen enorme Arbeitserleichterungen und Effizienzsteigerungen bewirkt, blieb man in Kanzleien aller Art und Größe, in Rechtsabteilungen und Notariaten oftmals zurückhaltend. Als Gründe wurden oft genannt: Angst vor mangelnder Datensicherheit, vor Abhängigkeiten von bestimmten Anbietern, Zurückhaltung bei finanziellen Investitionen, geringe Notwendigkeit, erprobte Prozesse zu verändern und vieles mehr.
Vor allem rund um die Themen Datenschutz und Datensicherheit waren die Bedenken groß und der Papierakte der Vorzug gegeben, obwohl diese naturgemäß für Totalverlust etwa durch Wasserschäden oder Brände anfällig ist. Hinterfragt wurden Lösungen und deren Sicherheit: Wo liegen eigentlich die Vorteile der Digitalisierung gegenüber analogen Prozessen und der bisherigen Datenarchivierung? Welche Expertise seitens der Anbieter gibt es bei der Bereitstellung automatisierter Workflows?
Plötzlich digital
Mit dem coronabedingten Lockdown und dem damit einhergehenden Wechsel der meisten Mitarbeiter ins Homeoffice waren plötzlich diejenigen Kanzleien in ihrer Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt, deren Arbeitsweise papierbasiert und auf Präsenzkultur ausgerichtet war.Plötzlich war Digitalisierung das Thema der Stunde und es wurde intensiv daran gearbeitet, die Arbeitsfähigkeit so schnell wie möglich wiederherzustellen. Dabei kamen vielerorts nicht nur eigens für die Rechtsbranche entwickelte Lösungen zum Einsatz, sondern alles, was schnell verfügbar war und Hilfe versprach. Bedenken in Sachen Datenschutz und Datensicherheit waren plötzlich nicht mehr oberste Priorität.
Aus den Panikreaktionen der ersten Tage nach dem Lockdown wurde aber schnell eine strukturierte und vor allem nachhaltige strategische Vorgehensweise. Innerhalb kürzester Zeit hat sich eine als eher traditionell geltende Branche digitalisiert, neue Prozesse aufgesetzt und verinnerlicht und neue Arbeitsmittel nicht nur akzeptiert, sondern zu schätzen gelernt. Kern dieser Veränderung ist sicherlich der Schritt hin zur digitalen Akte, die Anwälten und Kanzleimitarbeitern die ortsunabhängige Arbeit ermöglicht. Mobilität ist tatsächlich auch in diesem Umfeld nicht nur ein wohlfeiles Schlagwort, sondern ein wichtiges Kriterium für die Ausgestaltung des Arbeitsplatzes - des „Digital Workplace“ – geworden.
Grundlegende Transformation
Doch geht es bei der Digitalisierung einer Kanzlei natürlich nicht allein darum, bedrucktes und abgeheftetes Papier durch digitale Dokumente zu ersetzen. Vielmehr handelt es sich um eine vielschichtige und grundlegende Transformation, schließlich lassen sich sämtliche Arbeitsabläufe aus allen Bereichen einer Kanzlei digital abbilden - und dies fast nahtlos, ohne die Hauptanwendung zu verlassen. Keiner, der diese Transformation einmal angestoßen hat, wird sie wieder rückgängig machen, und so ist die Rechtsbranche nach dem Lockdown eine andere als davor. In welchem Maße und mit welcher Geschwindigkeit der einzelne Akteur oder die einzelne Kanzlei diese Transformation über die reine Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit auch außerhalb der Kanzlei hinaus weiter vorantreiben wird, bleibt abzuwarten. Viele Anzeichen sprechen aber dafür, dass ein Großteil der Verantwortlichen heute so bereit wie noch nie zuvor ist, diesen Weg konsequent weiterzugehen.
Übrigens hat der Lockdown nicht nur bei den Kanzleien, die bis dato noch nicht bzw. kaum digitalisiert hatten, einen Aktivitätsschub ausgelöst. Auch diejenigen, die bereits vorher erste Schritte Richtung Digitalisierung gegangen waren, haben sich gern auf mehr eingelassen, um sich nun zielgerichtet weiterzuentwickeln, nachdem sie den Mehrwert des digitalen Arbeitens bereits erkannt und Vertrauen zu einem Softwarepartner aufgebaut hatten. Für sie war natürlich der Wechsel ins Homeoffice nahezu bruchlos möglich. Optimierungsmöglichkeiten ergaben sich aber auch hier, sei es, dass die Anzahl von Lizenzen aufgestockt wurde, sei es, dass nun neue Tools zusätzlich zum Einsatz kommen, um den Prozess der Digitalisierung konsequent weiterzuentwickeln.
Mandanten mitgenommen
Eine wichtige Erkenntnis der vergangenen Wochen ist auch, dass die Reaktionen von Mandanten auf digitale Angebote von Kanzleien ganz überwiegend positiv waren – wohl auch, weil diese digitale Leistungen aus anderen Lebensbereichen und der eigenen Arbeitswelt längst gewohnt sind. Viele haben erkannt, dass es für alle Beteiligten einfacher und bequemer ist, nicht für jedes noch so kurze Gespräch in persona anreisen zu müssen, sondern sich flexibel per Videokonferenz abstimmen zu können. Wenn beide Seiten diese neuen Möglichkeiten akzeptieren, ergeben sich daraus Einsparpotentiale auf beiden Seiten und zudem durch den Einsatz der passenden Tools gleichzeitig auch neue Geschäftsmodelle für Anwälte. Ganz nebenbei schafft dies auch zusätzliches Vertrauen in die Dienstleistung von Juristen, denn wer trotz Social Distancing einfach erreichbar ist, zeigt Präsenz, Empathie und Flexibilität wider aller räumlicher Einschränkungen. Der anfänglichen Sorge, dass zu viel Digitalisierung den Zulauf von Mandanten im Rechtsmarkt ausbremsen könnte, lässt sich begegnen, indem man sie sich einfach zunutze macht.
Der Rechtsmarkt befindet sich ohnehin durch die Möglichkeiten, die die Digitalisierung im Bereich der Rechtsberatung bietet, in einem Umbruch. Für juristischen Beistand bei einfachen Sachverhalten, etwa in den Bereichen Reise- oder Verkehrsrecht, gibt es seit längerem Internetportale, die mit schnellem Service und transparenter Kostenstruktur punkten. Im Bereich von Standardfällen wird die Automation weiter zunehmen, so dass für die Arbeit des menschlichen Juristen zunehmend komplexe Sachverhalte in den Mittelpunkt seiner Tätigkeit rücken werden.
Spezialistentum und emotionale Intelligenz werden für Juristen wichtiger
Damit verändert sich mittelfristig die Ausrichtung des juristischen Berufsstandes. Ganz klar ist: Spezialistentum und emotionale Intelligenz werden wichtiger, ebenso wie digitales Know-how, das nicht mehr wegzudenken ist. Erste Hochschulen haben ihr Angebot bereits um den Bereich Legal Tech erweitert, auch das ist eine Entwicklung, die noch breiter werden dürfte. Und auch das Berufsbild der Rechtsanwaltsfachangestellten gerät mit der zunehmenden Digitalisierung in den Kanzleien in Bewegung. Fachlich anspruchsvollere und weniger repetitive Aufgaben bestimmen zunehmend den Arbeitsalltag und sollten mittelfristig zu einer Attraktivierung dieser Tätigkeit führen. Fazit: Der coronabedingte Lockdown hat einen Prozess im Zeitraffer vorangetrieben, der sich ohne ihn noch über Jahre hingezogen hätte und kaum so konsequent betrieben worden wäre. Er hat Kanzleien die Chance eröffnet, sich umfassend und pragmatisch schnell zu modernisieren und sich zukunftssicher aufzustellen und wird auch nachhaltig als Beschleuniger des Wandels im gesamten Rechtsmarkt und der von ihm geforderten Berufsbilder wirken.