Dr. Benjamin Schmidt ist seit 2006 Richter in der hessischen Sozialgerichtsbarkeit, die in Sachen Digitalisierung als besonders ambitioniert gilt. In dieser Zeit sammelte er umfangreiche Erfahrungen mit der Entwicklung von der Papierakte zur so genannten e-duplo-Akte, einem vollständigen digitalen Abgleich der Papierakte. Aktuell ist Dr. Benjamin Schmidt Richter am Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt. Im Interview mit Wolters Kluwer Deutschland gibt er Auskunft über den Stand der Digitalisierung seiner richterlichen Arbeit und äußert sich zu aktuellen Veränderungen, Chancen und Grenzen der Digitalisierung in der Justiz.
Wie war vor der Corona-Pandemie der Stand der Digitalisierung Ihrer Arbeit in Bereichen wie Aktenführung, Kommunikation und Verhandlungsführung? Welche Tools waren hier schon im Einsatz und wie haben Sie deren Akzeptanz erlebt? Gab es zu diesem Zeitpunkt bereits eine Digitalisierungsstrategie?
Ja, in der hessischen Sozialgerichtsbarkeit wird schon seit vielen Jahren konsequent eine umfassende Digitalisierungsstrategie verfolgt, um Arbeitsabläufe effizienter und kostengünstiger zu gestalten. Dabei sind natürlich die Vorgaben zu beachten, die der Gesetzgeber verbindlich vorschreibt – etwa für den Bereich des elektronischen Rechtsverkehrs. Während danach einfache E-Mails für den Austausch zwischen Verfahrensbeteiligten und dem Gericht nicht zugelassen sind, kommt diesen für die gerichtsinterne Kommunikation eine große Bedeutung zu. Auch nach außen wird aber inzwischen auf den Postversand weitgehend verzichtet und stattdessen auf sichere elektronische Übertragungswege oder den digitalen Faxversand gesetzt. Was die Gerichtsakten angeht, ist zu differenzieren. Rechtlich verbindlich ist ausschließlich die Papierakte. Das zeigt sich vor allem an Dokumenten, die einer richterlichen Unterschrift bedürfen. Aber die hessischen Sozialgerichte verfügen über elektronische Akten, die den Inhalt der Papierakten nahezu vollständig wiedergeben. Auf diese kann man über eine sichere VPN-Verbindung auch außerhalb des Gerichtsgebäudes zugreifen. Das erleichtert das mobile Arbeiten natürlich enorm und erfreut sich daher in der Richterschaft großer Beliebtheit. Schlechter ist die Akzeptanz bei der schon seit fast zwanzig Jahren bestehenden Möglichkeit, Gerichtsverhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung zu ermöglichen.
Welche coronabedingten Auswirkungen gab und gibt es auf Ihre Arbeit und wie wurde diesen begegnet?
Einschränkungen bei der richterlichen Tätigkeit betreffen nahezu ausschließlich die Durchführung von mündlichen Verhandlungen, Erörterungs- oder Beweisterminen und sonstigen Sitzungen. Insoweit war gerade in den ersten Wochen und Monaten der Pandemie eine starke Zurückhaltung zu spüren. Inzwischen werden – unter Einhaltung des Abstandsgebots – schon wieder deutlich mehr Termine abgehalten. Dazu sind vielerorts Plexiglas-Abtrennungen aufgestellt und Zuschauerplätze reduziert worden. Auch werden die Sitzungssäle verstärkt gereinigt bzw. desinfiziert. Anders als im Strafprozess gibt es im sozialgerichtlichen Verfahren aber auch verschiedene Möglichkeiten, eine instanzbeendende Entscheidung schriftlich zu erlassen. Davon ist in letzter Zeit sicherlich verstärkt Gebrauch gemacht worden. Aber diese Vorgehensweise hat Grenzen. Die mündliche Verhandlung, die als „Herzstück des Verfahrens“ gilt, lässt sich dadurch nicht ersetzen.
Was hat sich in den vergangenen Monaten in Bezug auf die Digitalisierung Ihrer Arbeit verändert? Was sind Provisorien, welche Veränderungen werden Ihrer Einschätzung nach von Dauer sein?
Änderungen hat es zunächst bei den rechtlichen Rahmenbedingungen gegeben. Der Gesetzgeber hat es im Rahmen einer befristeten Ausnahmevorschrift ermöglicht, dass auch ehrenamtliche Richter an einer mündlichen Verhandlung oder einer Beratung von einem anderen Ort teilnehmen, an den Bild und Ton übertragen werden. Hinsichtlich der (schon früher bestehenden) diesbezüglichen Möglichkeiten der Verfahrensbeteiligten und ihrer Bevollmächtigten ist der Ermessensspielraum des Gerichts im Sinne der Gestattung als Regelfall verengt worden. Gleichwohl haben derartige Übertragungen nach wie vor Seltenheitswert. Hintergrund sind neben fehlender Technik (wie Videokonferenzanlagen) auch rechtliche Bedenken (etwa im Hinblick auf den Datenschutz). Verändert hat sich aber rein praktisch die Nutzung der Möglichkeiten der richterlichen Heimarbeit. Dies scheint mir ein gesamtgesellschaftliches Phänomen zu sein, das die Arbeitswelt nach meiner Prognose nachhaltig verändern wird.
Wie schätzen Sie die Akzeptanz von Digitalisierung in der Justiz generell ein? Welche Haltung haben Sie persönlich?
Wirft man einen gerichtsbarkeitsübergreifenden Blick auf die gesamte Justiz, sieht man einen Flickenteppich. Die Ausstattung mit Hardware und Software und die Anforderungen, die die Arbeit in den verschiedenen Bereichen stellt, erscheinen mir zu divergent, um die Frage einheitlich beantworten zu können. Allgemein wird man aber sagen können, dass die Akzeptanz umso größer ist, je handgreiflicher die Vorteile für die eigene Tätigkeit sind. Insofern muss ich gestehen, lange Zeit eher zu den Skeptikern der fortschreitenden Digitalisierung gehört zu haben. Nach wie vor lässt sich eine einfache Standardverfügung (wie die Weiterleitung eines eingegangenen Schriftsatzes an die Gegenseite) in der Papierakte sehr viel schneller erledigen als am Computer. Aber die Vorteile im Hinblick auf ein ortsungebundenes Arbeiten sind natürlich unbestritten. Und in Zeiten, in denen man das Haus am liebsten nicht verlassen möchte, erweist sich dieses Argument als besonders schlagkräftig.
Wo liegen Ihrer Einschätzung nach die Hemmnisse für eine konsequente Digitalisierung der Justiz?
Ein großes Problem stellt aus meiner Sicht die sachgerechte Ausstattung dar. Die steigenden Datenmengen und die zunehmenden Möglichkeiten, mit ihnen zu arbeiten, führen zu einem stetigen Investitionsbedarf im Bereich von Hard- und Software. Probleme bei der Performance wirken als Akzeptanzkiller. Ohnehin erscheint mir die Einschätzung verbreitet, längere Texte (sei es eine juristische Abhandlung oder ein medizinisches Gutachten) intellektuell in der Papierform besser aufnehmen zu können. Ernst zu nehmen sind auch die Sorgen der Justizangehörigen vor gesundheitlichen Problemen durch immer mehr Bildschirmarbeit. Hier sollten die Gerichtsverwaltungen nicht nur für ergonomische Arbeitsplätze sorgen, sondern auch einen Ausgleich ermöglichen, etwa durch Gesundheitsprogramme während der Arbeitszeit. Speziell für die Richterschaft gilt es, ihre Unabhängigkeit auch in der digitalen Welt zu wahren. Kritisch sind die mit der EDV verbundenen Möglichkeiten der Erfassung von Arbeitszeit und Arbeitsweise. Auch die Frage, welche Systemadministratoren eigentlich Zugriff auf Entscheidungsentwürfe oder ähnliches haben, treibt viele Kollegen um.
Wo sehen Sie Vor-, wo Nachteile einer Digitalisierung?
Die Nachteile sind ja in meiner Antwort auf die vorherige Frage schon angeklungen. Zusätzlich lässt sich wohl auch konstatieren, dass die zwischenmenschliche Kommunikation leidet, wenn jeder Richter nur noch im Homeoffice am Computer sitzt. Das gilt für den kollegialen Austausch ebenso wie für den Kontakt mit den Prozessbeteiligten. Von Vorteil ist sicherlich, dass die Digitalisierung in vielerlei Hinsicht ein effizienteres Arbeiten ermöglicht. Angesichts der während der Corona-Pandemie geltenden Kontaktbeschränkungen wären manche Dinge ohne die technische Entwicklung auch gar nicht mehr umsetzbar gewesen; ich denke da etwa an Fortbildungsveranstaltungen, die als Webinar durchgeführt werden können. Ganz allgemein hat es uns die digitalisierte Arbeitsumgebung in dieser Zeit ermöglicht, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, ohne unnötige gesundheitliche Gefahren in Kauf nehmen zu müssen.
Wie werden sich Ihre Arbeit und der Richterberuf generell durch die Digitalisierung in den kommenden Jahren wandeln und wie sollte man dem Ihrer Meinung nach in der Richterausbildung begegnen?
Ich denke, der Anteil der Arbeitszeit am „Endgerät“ wird in den nächsten Jahren erheblich steigen. Hoffentlich steht uns dabei eine leistungsfähige EDV-Ausstattung und ein versierter technischer Support zur Seite. Die kommenden Generationen junger Juristen werden damit als „Digital Natives“ weniger fremdeln als die älteren Semester. Entscheidend wird sein, ihre Sozialkompetenz zu stärken, und sie für die Probleme des Datenschutzes und der EDV-Sicherheit zu sensibilisieren.