Peter Scheider, Richter am Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen a.D., Mitherausgeber des „Schellhorn“ (SGB XII-Kommentar)
Mit der Neufassung des § 35 SGB XII durch Art. 5 Nr. 6 des Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung eines Bürgergeldes (Bürgergeld-Gesetz) vom 16.12.2022 (BGBl. I, S. 2328) wurde u.a. (ebenso wie in § 22 SGB II) eine Karenzzeit von einem Jahr eingeführt. Danach werden die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft von Leistungsberechtigten nach dem 3. sowie 4. Kap., auch wenn die Aufwendungen nach den Bestimmungen des § 35 SGB XII unangemessen hoch sind, für das erste Jahr des Leistungsbezugs in voller Höhe als Bedarf anerkannt. Im Einzelnen finden sich die neuen Regelungen in § 35 Abs. 1 Sätze 2 bis 6 sowie Abs. 2 SGB XII, eine Übergangsregelung enthält § 140. Außerdem hat die neue Regelung Auswirkungen auf den neuen § 35a SGB XII und den geänderten § 42a SGB XII.
Anmerkung der Redaktion: Dies ist Teil 2 des Beitrags von Herrn Scheider. Teil 1 finden Sie hier. |
Einzelheiten zu den Verfahrensregelungen und zur Informationspflicht (§ 35 Abs. 2 SGB XII)
Der neue Abs. 2 des § 35 SGB XII bestimmt in Satz 1, dass der Träger der Sozialhilfe zu Beginn der Karenzzeit die Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung zu prüfen hat. Außerdem normiert Satz 2 der Vorschrift eine Informationspflicht gegenüber der leistungsberechtigten Person, wenn die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung den nach der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen. Während Satz 1 lediglich eine sich ohnehin aus dem Gesetz folgende Verpflichtung wiederholt, wird mit Satz 2 eine aus der Einführung der Karenzzeit folgende neue Regelung getroffen.
Prüfung der Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung (Satz 1)
Unabhängig von der neuen Karenzzeit hat der Träger der Sozialhilfe vor der erstmaligen Bewilligung von Leistungen nach dem 3. oder 4. Kap. des SGB XII im Einzelnen u.a. zu prüfen, ob der notwendige Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln bestritten werden kann. Da hierzu auch der Bedarf für Unterkunft und Heizung gehört, muss die Höhe des insoweit anzuerkennenden Bedarfs festgestellt werden. Mit § 35 Abs. 2 Satz 1 SGB XII wird diese Prüfung hinsichtlich der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung direkt an den Beginn der Karenzzeit gekoppelt.
Informationspflicht über unangemessene Aufwendungen für Unterkunft und Heizung (Satz 2)
Die sich aus Abs. 2 Satz 2 ergebende Informationspflicht trifft den Träger der Sozialhilfe nur, wenn die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen. Während die Karenzzeit nur Auswirkungen auf die Kosten der Unterkunft hat, hat sich die Prüfung der Angemessenheit auch auf die Kosten der Heizung zu erstrecken. Damit wird erstmals sichergestellt, dass die Leistungsberechtigten bereits bei der erstmaligen Bewilligung von Leistungen nach dem 3. oder 4. Kap. des SGB XII eine Information erhalten, wenn ihre Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach Ansicht des Sozialhilfeträgers den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen.
Die Informationspflicht hat nach Abs. 2 Satz 2 mit dem ersten Bewilligungsbescheid zu erfolgen. Gleichzeitig sind die Leistungsberechtigten über die Dauer der Karenzzeit sowie über das Verfahren nach Ablauf der Karenzzeit zu unterrichten. Mit der Unterrichtung über das Verfahren ist die Information darüber verbunden, dass die Berücksichtigung der eigentlich unangemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung als Bedarf – nur – so lange erfolgt, bis es den Leistungsberechtigten möglich oder zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, und zwar in der Regel längstens für sechs Monate. Damit und mit der Information über die Unangemessenheit ihrer Aufwendungen für Unterkunft und Heizung erfüllt die Regelung eine Warnfunktion. Sie ersetzt nicht die weiterhin vor einer Minderung der Leistungen wegen unangemessener Aufwendungen für Unterkunft und Heizung erforderliche individuelle Information der Leistungsberechtigten über ihre Obliegenheitsverpflichtung zur Senkung dieser Aufwendungen.
Informationspflicht auch bei unangemessenen Aufwendungen nur für Unterkunft oder Heizung
Über die Unangemessenheit der Kosten und über die Dauer der Karenzzeit sowie das anschließende Verfahren ist nicht nur dann zu informieren, wenn die Summe der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung die Summe der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung überschreitet. Die Informationspflicht tritt auch ein, wenn – isoliert betrachtet – die tatsächlichen Kosten für Unterkunft oder die tatsächlichen Kosten für die Heizung die jeweilige Angemessenheitsgrenze überschreiten. Nur so kann die beabsichtigte Warnfunktion für erstmals nach dem SGB XII leistungsberechtigte Personen erfüllt werden. Sie sollen frühzeitig wissen, dass sie, ggf. nach Ablauf der Karenzzeit, mit einer Kostensenkungsaufforderung rechnen müssen und über die Höhe der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung aufgeklärt werden (so die Begründung des Gesetzentwurfs zum Bürgergeldgesetz, BT-Drucks. 20/3873, S. 111 und die Antwort der Bundesregierung auf die Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drucks. 20/4226, S. 23). Abs. 2 Satz 2 über die Mitteilungspflicht des Trägers der Sozialhilfe ist also im Sinne einer alternativen Verbindung von Unterkunft und Heizung zu verstehen.
Sonderregelungen in Fällen des § 35a SGB XII
Karenzzeit bei Instandhaltung und Reparatur (§ 35a Abs. 1 Satz 3 SGB XII)
Die neuen Regelungen über eine Karenzzeit gelten gem. § 35a Abs. 1 Satz 3 SGB XII nicht für die Bedarfe nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB XII über die Anerkennung von (zuschussweisen) Bedarfen für Instandhaltung und Reparatur.
Karenzzeit bei Umzug (§ 35a Abs. 2 Satz 4 SGB XII)
Im Zusammenhang mit einem Umzug gelten die Regelungen über eine Karenzzeit nur eingeschränkt. Nach § 35a Abs. 2 Satz 4 SGB XII werden innerhalb der Karenzzeit nach einem Umzug höhere als angemessene Aufwendungen nur dann als Bedarf anerkannt, wenn der Träger der Sozialhilfe die Anerkennung vorab zugesichert hat. Geregelt sind damit nur die Fälle, in denen während einer Karenzzeit ein Umzug erfolgt. Ist der Umzug bereits vor Beginn der Karenzzeit erfolgt, sind die Aufwendungen für die – neue – Unterkunft bereits bei der Entscheidung über die Karenzzeit berücksichtigt worden.
Im Einzelfall kann die Anerkennung höherer als angemessener Unterkunftskosten als Bedarf auch nach einem Umzug geboten sein. Das kann z.B. der Fall sein, wenn die Beendigung des Leistungsbezuges vor Ablauf der Karenzzeit zu erwarten ist (Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses für Arbeit und Soziales, BT-Drucks. 20/4360, S. 35). Im Geltungsbereich des SGB XII kann ein solcher Fall eintreten, wenn altersbedingt ein höherer Rentenanspruch absehbar ist. Bei einem notwendigen Umzug während der Karenzzeit aus zwingenden Gründen können im Einzelfall für die neue Unterkunft ebenso wie bei der alten Unterkunft höhere als angemessene Aufwendungen anfallen, die als Bedarf anzuerkennen sind.
Sonderregelungen in Fällen des § 42a SGB XII
Für nach dem 4. Kap. des SGB XII Leistungsberechtigte i.S.v. § 42a Abs. 4 SGB XII gilt bei der Anerkennung der Bedarfe für Unterkunft die Karenzzeit ebenfalls. Dies betrifft Personen in der Wohnform persönlicher Wohnraum mit zusätzlichen Räumlichkeiten, die vertraglich zur Tragung von Unterkunftskosten verpflichtet sind. Diese können deshalb bei Vorliegen der Voraussetzungen von der Karenzzeit profitieren.
Anders ist dies bei weiteren von § 42a SGB XII erfassten Personen. Insoweit bestimmt § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB XII, dass § 35 Abs. 1 Satz 2 bis 6 SGB XII in den Fällen der Abs. 3 und 5 bis 7 des § 45a SGB XII nicht gilt.
Ausschluss der Karenzzeit im Einzelnen
Dieser Ausschluss betrifft Personen, die
- in der Wohnform persönlicher Wohnraum mit zusätzlichen Räumlichkeiten leben und nicht vertraglich zur Tragung von Unterkunftskosten verpflichtet sind (§ 42a Abs. 3 SGB XII),
- in einer ambulanten besonderen Wohnform wohnen (§ 42a Abs. 5, Abs. 6 Satz 2 SGB XII),
- in sog. Besonderen Unterbringungsformen leben (§ 42a Abs. 7 SGB XII) sowie
- Fälle nach § 42a Abs. 6 Satz 1 SGB XII.
Die Regelung dient hinsichtlich der ersten drei Fallgestaltungen nur der Klarstellung, weil die leistungsberechtigten Personen keine tatsächlichen Aufwendungen für ihre Unterkunft zu tragen haben.
§ 42a Abs. 6 Satz 1 SGB XII, der vom Wortlaut des § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB XII ebenfalls erfasst sein soll, regelt allerdings keine originären Leistungsfälle, er betrifft besondere Fallgestaltungen nach Abs. 4. Soweit bei diesen Fallgestaltungen nicht die leistungsberechtigte Person, sondern ein anderer Leistungsträger die unangemessenen Aufwendungen für die Unterkunft ganz oder teilweise zu übernehmen hat, bedarf es der Schutzfunktion der Karenzzeiten nicht. Es ist also konsequent, wenn insoweit tatsächlich die entsprechenden Regelungen des § 35 Abs. 1 Sätze 2 bis 6 SGB XII nicht gelten (ob dies der Intention des Gesetzgebers entspricht, ist allerdings fraglich: s. die Begründung des Gesetzentwurfs zum Bürgergeldgesetz, BT-Drucks. 20/3873, S. 115 sowie die Gesetzesbegründung zur Einfügung des § 35 Abs. 6 Satz 3, BT-Drucks. 20/3873, S. 113).
Übergangsregelung für die Bedarfe für Unterkunft während der Karenzzeit (§ 140 SGB XII)
Für die beim Inkrafttreten der Bestimmungen über die Karenzzeiten am 01.01.2023 laufenden Fälle des Leistungsbezuges nach dem 3. oder 4. Kap. des SGB XII trifft die ebenfalls zum 01.01.2023 in Kraft getretene Vorschrift des neuen § 140 SGB XII Übergangsregelungen. Die Regelung betrifft ausschließlich Fälle, in denen der erstmalige Leistungsbezug vor dem 01.01.2023 lag, sie entfaltet keine Auswirkungen bei späterem Leistungsbeginn.
Leistungsbezug bis zum 31.12.2022 (Abs. 1)
Nach § 140 Abs. 1 SGB XII bleiben Zeiten eines Leistungsbezugs bis zum 31.12.2022 bei der Karenzzeit nach § 35 Abs. 1 Satz 2 SGB XII unberücksichtigt. Damit soll erreicht werden, dass die neue Karenzzeit für alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig davon gilt, ob vor Inkrafttreten des Bürgergeldes Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII bezogen wurden. Die Übergangsregelung ist bei der Entscheidung relevant, ob erstmals i.S.v. § 35 Abs. 1 Satz 2 Leistungen nach dem SGB XII bezogen werden. Außerdem muss die in § 35 Abs. 2 Satz 1 SGB XII vorgesehene Prüfung der Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung zum 01.01.2023 erfolgen. Die Information nach § 35 Abs. 2 Satz 2 SGB XII erfolgt dann mit dem nächsten Bewilligungsbescheid, der wegen der damit verbundenen Warnfunktion zeitnah erfolgen sollte.
Frühere Anerkennung nur tatsächlicher Aufwendungen (Abs. 2)
§ 140 Abs. 2 SGB XII enthält eine Sonderregelung für die Anwendung der Karenzzeit nach § 35 Abs. 1 Sätze 2 bis 6 SGB XII bei Fällen, in denen in einem Bewilligungszeitraum vor dem 01.01.2023 geringere als die tatsächlichen Unterkunftskosten als Bedarf für die aktuelle Unterkunft anerkannt worden sind. Erfolgte die Anerkennung der geringeren Aufwendungen für eine frühere Unterkunft, liegt kein Fall des Abs. 2 vor, auch wenn die Aufwendungen für die im zu prüfenden Leistungszeitraum bewohnte Unterkunft höher sind als bei der früheren.
Die Vorschrift relativiert u.a. die Übergangsregelung des Abs. 1. Wenn Leistungsberechtigte bereits früher die Herabsetzung der Bedarfe für die Unterkunft auf das angemessene Maß akzeptiert haben und ihre Aufwendungen auch nicht gesenkt haben, sollen mit der Einführung der Karenzzeit nicht erneut die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkannt werden.
Fazit des Autors | Wünsche an den Gesetzgeber
Bereits diese kurze Übersicht zeigt, dass die Regelungen nicht immer hinreichend konkret sind und es zur Vermeidung überflüssiger Rechtsstreitigkeiten Nachbesserungsbedarf gibt. Dies betrifft insbesondere die Formulierung »Leistungen nach dem SGB XII« in § 35 Abs. 1 Satz 2 bzw. Satz 6 SGB XII. Auch die Frage, ob mit dem »Monat« in § 35 Abs. 1 Satz 2 und Satz 4 SGB XII der Kalendermonat gemeint ist, bedarf der Klarstellung, ebenso wie die Einbeziehung des § 42a Abs. 6 SGB XII in § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB XII. Im Übrigen sollte eine zeitnahe Evaluation zeigen, ob weiterer Handlungsbedarf besteht, um in Ansehung des weiterhin angespannten Wohnungsmarktes das Ziel der Karenzzeiten tatsächlich zu erreichen.
Anmerkung der Redaktion:
- Teil 1 des Beitrags „Bürgergeld-Gesetz: „Karenzzeit im SGB XII“ – Aufwendungen für Unterkunft auch bei Unangemessenheit“ von Herrn Scheider finden Sie hier.
- Alle weiteren Beiträge rund um das Bürgergeld-Gesetz und seine Auswirkungen finden Sie hier:
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