Leistungsminderungen nach dem SGB II
Recht & Verwaltung13 Januar, 2023

Leistungsminderungen nach dem SGB II – „Wichtiger Grund“, „Härtefall“ und die Abgrenzung

Alexander Lahne, Leiter des Sachgebietes „Recht im SGB II“, Landratsamt München

Durch die Umstrukturierung des SGB II auf der Grundlage des Bürgergeldgesetzes, durch den dadurch bedingten Wegfall des Moratoriums und durch das Abebben der Corona-Pandemie treten die Leistungsminderungen nach dem SGB II (bislang: „Sanktionen“) wieder in den Fokus. Für die Praxis bedeutet dies: Bei der Fallbearbeitung gibt es Neuerungen zu beachten. Eine davon wird in diesem kurzen Beitrag gründlich beleuchtet.Das Bürgergeld ist da: Zum 01.01.2023 wurde der erste Teil einer heftig umstrittenen deutschen Sozialrechtsreform umgesetzt. Das Zweite Buch Sozialgesetzbuch, das SGB II, welches die Grundsicherung für Arbeitsuchende regelt, wurde durch das „Zwölfte Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze“ – kurz: Bürgergeldgesetz – umstrukturiert. Hieraus folgen Neuerungen und Veränderungen für die Arbeitsabläufe in den Jobcentern, dies gleichermaßen in den Leistungsabteilungen wie bei den Integrationsfachkräften.

Hier und da entstehen im Zusammenhang mit der neuen Lage auch Fragen hinsichtlich der richtigen Abgrenzung zweier Rechtsbegriffe. Dieser Beitrag soll auf ein markantes Beispiel hinweisen - nämlich auf die Abgrenzung zwischen der Prüfung des „wichtigen Grundes“ und der Prüfung des „Härtefalles“ bei den Leistungsminderungen (bislang: „Sanktionen“) - und den Lösungsweg aufzeigen.

Ausgangspunkt: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 05.11.2019 (1 BvL 7/16)

Das Bürgergeldgesetz hat unter anderem eine Neugestaltung der Normen zu den Leistungsminderungen im Gepäck, also der Vorschriften, welche regeln, welche Rechtsfolgen an Pflichtverletzungen Leistungsberechtigter zu knüpfen sind. Nebenbei: Es ist nicht mehr von „Sanktionen“ die Rede – dieser Begriff wurde durch das Bürgergeldgesetz eben gegen denjenigen der „Leistungsminderungen“ ausgetauscht (vgl. Überschrift des Kapitel 3, Abschnitt 2, Unterabschnitt 5). Soweit zur Kosmetik.

Mit der Neufassung der entsprechenden Normen, welche zum 01.01.2023 in Kraft tritt (ein neuer Tatbestand aus der Ecke des Kooperationsplans wird zum 01.07.2023 hinzukommen und die mit der Eingliederungsvereinbarung zusammenhängenden Tatbestände ersetzen) werden auch diejenigen Vorgaben umgesetzt, welche das Bundesverfassungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung vom 05.11.2019 (1 BvL 7/16) festgeschrieben hat. So wurde vom Bundesverfassungsgericht unter anderem die Einführung einer Härtefallregelung gefordert, um in „erkennbaren Ausnahmekonstellationen“ (vgl. Rdn. 184 des Urteils) von einer Leistungsminderung Abstand nehmen zu können. Dies war wohl auch deshalb erforderlich, weil die Vorschriften zu den Leistungsminderungen nie als Ermessensvorschriften ausgestaltet waren und auch nicht sein werden. Übrigens: Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner maßgeblichen Entscheidung dankenswerterweise auch deutlich gemacht, dass Ermessens- und Härtefallprüfung sich gegenseitig ausschließen (vgl. Rdn. 185 des Urteils).

Bereits vor Inkrafttreten der Neufassung des SGB II zum 01.01.2023 waren die Grundsätze, welche das Bundesverfassungsgericht im Spätherbst 2019 in den Leitsätzen seines Urteils aufgestellt hat, in der Praxis der Grundsicherungsträger nach dem SGB II zu beachten. Die Frage der Abgrenzung nach der Prüfung des „wichtigen Grundes“ und der Härtefallprüfung steht mehr oder weniger theoretisch also schon länger im Raum. Durch die Corona-Pandemie und die damit in der Praxis einhergegangene Zurückhaltung beim Aussprechen von Leistungskürzungen und durch das - nun doch nur bis zum Ablauf des Jahres 2022 geltende - Moratorium war diese Frage etwas aus dem Fokus geraten. Mit Beginn des Jahres 2023 wird sie wieder ins Licht gerückt.

Die Prüfung des wichtigen Grundes

Die Prüfung des „wichtigen Grundes“ ist im Zusammenhang mit Leistungsminderungen nach dem SGB II nichts Neues. So stellte das Gesetz bislang in § 31 Abs. 1 S. 2 SGB II a. F. und in § 32 Abs. 1 S. 2 SGB II a. F. sowohl für „große“ als auch für „kleine“ (= Meldeversäumnisse) Sanktionen den Grundsatz auf, dass leistungsberechtigte Personen, wenn sie sich auf einen wichtigen Grund für eine begangene Pflichtverletzung berufen, die entsprechenden Umstände „darlegen und nachweisen“ müssen.

Die Prüfung des wichtigen Grundes war und ist also immer in Bezug auf die jeweilige Pflichtverletzung zu verstehen (vgl. auch Rdn. 176 des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes vom 05.11.2019 - 1 BvL 7/16). Abweichend vom Gesetzeswortlaut fällt dabei im Rahmen der entsprechenden Überprüfung jedoch nicht ausschließlich der leistungsberechtigten Person die Beweislast zu: Nach der anzuwendenden Sphärentheorie soll - vereinfacht ausgedrückt - diejenige Partei (also entweder die leistungsberechtigte Person oder das Jobcenter) die Nachweislast für diejenigen Punkte treffen, welche sich in ihrer jeweiligen Sphäre abspielen (vgl. hierzu Berlit in Münder/Geiger; SGB II, 7. Aufl. 2021, § 31, Rdn. 81).

Somit trifft beispielsweise die leistungsberechtigte Person die Beweislast, wenn es um die Frage der Arbeitsunfähigkeit geht oder aber um Umstände, welche sich im familiären Bereich abspielen. Demgegenüber könnten die Mitarbeiter der Jobcenter beispielsweise durch einen Blick in das Internet einen behaupteten Ausfall von Bussen und Bahnen überprüfen. Diffiziler sind Sachverhaltsgestaltungen, in denen eine behauptete Diskriminierung am aufgegebenen Arbeitsplatz eine Rolle als „wichtiger Grund“ für eine arbeitnehmerseitige Kündigung spielt (vgl. Rdn. 143, 173 des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes vom 05.11.2019 - 1 BvL 7/16 mit Verweis auf Sonnhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 31, Rdn. 103 ff.: Kann ein „wichtiger Grund“ sein) oder aber die geäußerte Besorgnis der Befangenheit eines Mitarbeiters des Jobcenters im Zusammenhang mit einem Meldeversäumnis (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, B. v. 12.02.2019 – L 7 AS 1008/18 NZB: Kein wichtiger Grund).

Die Härtefallprüfung

Zur Härtefallprüfung kommt man zunächst einmal immer nur, wenn man eine Pflichtverletzung festgestellt hat, ohne dass diese durch einen entsprechenden „wichtigen Grund“ entschuldigt ist. Dann erst nämlich ist zu überprüfen, ob ein atypischer Fall gegeben ist, in welchem sich das Absehen von einer Leistungsminderung aufdrängt. Dies soll zusammengefasst immer dann gegeben sein, wenn eine Leistungskürzung den Zielen des SGB II zuwiderlaufen würde. In den diesbezüglichen Ausführungen verweist das Bundesverfassungsgericht in seiner maßgeblichen Entscheidung auf Menschen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen und (…) erheblichen psychischen Problemen (vgl. Rdn. 176) und somit auf einen Personenkreis, dem mit gesteigerten empathischen und pädagogischen Fähigkeiten begegnet werden muss.

Vereinfacht lässt sich sagen, dass von einer Leistungsminderung in diesem Zusammenhang abgesehen werden muss, wenn sie sich kontraproduktiv auf den Vermittlungsprozess auswirken würde.

Daneben kann ein Härtefall auch aus finanziellen Aspekten gegeben sein. Hierfür reichen aber weder Schulden noch der Umstand, dass eine Leistungskürzung generell einen finanziellen Einschnitt darstellt. Zu denken wäre an eine drohende Gesamtfälligstellung, wenn eine Ratenzahlung wegen verringerter finanzieller Mittel nicht ordnungsgemäß bedient werden kann.

Die Regelung zur Härtefallprüfung wird sich für den Bereich der „großen“ Leistungsminderungen, also der Pflichtverletzungen, die bislang in den Bereich der Leistungskürzungen in Höhe von 30 % des Regelbedarfes fielen (es tritt diesbezüglich nun eine Staffelung hinsichtlich Höhe und Dauer dieser Leistungsminderungen ein), in der Vorschrift des § 31 a Abs. 3 SGB II in der ab dem 01.01.2023 geltenden Fassung finden.

Für die „kleinen“ Leistungsminderungen wird sich in § 32 Abs. 2 Satz 1 SGB II in der ab dem 01.01.2023 geltenden Fassung ein Verweis auf „§ 31 a Absatz 2 bis 5“ in der ab dem 01.01.2023 geltenden Fassung finden; auch vor einer Leistungskürzung wegen eines Meldeversäumnisses ist also eine Härtefallprüfung durchzuführen.

Fazit

Zum Abschluss noch einmal die Zusammenfassung zur Abgrenzung:

  • Die Prüfung des „wichtigen Grundes“ ist stets bezogen auf die Pflichtverletzung zu verstehen,
  • die Härtefallprüfung hingegen auf die Verhängung der Leistungsminderung an sich

(vgl. auch Hahn in Eicher/Luik/Harich/Hahn; SGB II, 5. Aufl. 2021, § 31, Rdn. 70a).

Sich diese Formel zu verinnerlichen, trägt dazu bei, die Voraussetzungen einer Leistungsminderung sauber überprüfen zu können.

Anmerkung der Redaktion:

Weitere Beiträge und kostenfreie Downloads zum Bürgergeld-Gesetz finden Sie unter: Content Hub – Fokus Bürgergeld.

Autor

Alexander Lahne

Alexander Lahne ist Leiter des Sachgebiets „Recht im SGB II“ in einem großen bayerischen Jobcenter und hat langjährige Erfahrung im Bereich der Widerspruchs- und Klagebearbeitung auf diesem Rechtsgebiet gesammelt. Außerdem ist er Autor und Mitautor einschlägiger Fachliteratur wie z.B. zum Thema Potenzialanalyse in eGovPraxis Jobcenter.

Nebenberuflich ist er als Referent tätig und bietet ganztägige Seminare zu verschiedenen Themen aus den Bereichen SGB II und SGB X an: https://lahne-rechtsseminare.de/


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Alexander Lahne
Leiter des Sachgebiets „Recht im SGB II“ im Landratsamt München
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