Videoverhandlungen-in-der-Arbeitsgerichtsbarkeit
Recht & Verwaltung06 April, 2023

Videoverhandlungen in der Arbeitsgerichtsbarkeit – Bestandsaufnahme und Ausblick

Direktor des Sozialgerichts Professor Dr. Henning Müller, Darmstadt

Beweisaufnahme per Video

Besonders umstritten ist die Eignung von Videokonferenztechnik als Mittel der Beweisaufnahme. Gem. § 128a Abs. 2 ZPO kann auch Zeugen und Sachverständige die Teilnahme an der Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung gestattet werden. Ob gerade die Zeugenvernehmungen als Videokonferenz tunlich ist, wird höchst kontrovers diskutiert. Sicher gilt, dass eine rein virtuelle Verhandlung eher für Verfahren geeignet ist, deren Gegenstand ein rein professioneller Informationsaustausch ist.9


1. Generelle Eignung virtueller Beweisaufnahmen

Unzutreffend ist aber dennoch der pauschale Zweifel,10 dass für Zeugenvernehmungen generell, speziell aber in emotional geprägten Verhandlungssituationen oder jedenfalls für Beweisaufnahmen, bei denen auch die Glaubwürdigkeit in Rede stehen kann, die Nutzung von Videokonferenztechnik tendenziell ungeeignet sei. Diese Meinung geht davon aus, dass das Charakteristikum der Videokommunikation eine Asymmetrie der Wahrnehmung sei. Die in der Vis-à-vis-Kommunikation gegebene Reziprozität der Wahrnehmungsbedingungen sei aufgehoben: Der virtuell Teilnehmende nehme nur einen Ausschnitt des realen Vorgangs wahr; an die Stelle eines gemeinsamen treten mehrere voneinander losgelöste Bezugsrahmen, ohne dass dies den Teilnehmern ständig bewusst sei. Nach den Erkenntnissen der Kommunikationswissenschaft wirkten sich diese Defizite der Videokonferenz auch auf den kognitiven Austausch und die emotionale Verständigung aus. Die fehlende Interaktion könnte dazu führen, dass Nicht- oder Missverständnisse nicht sogleich aufgeklärt, Backchannel-Signale nicht sogleich thematisiert würden, eigene Gedanken zum Gesagten verloren gingen. Video-Kommunikation eigne sich daher weniger für Konfliktlösungs- und Verhandlungsgespräche. Auch wenn diese Grundannahme sicher kommunikationswissenschaftlich nicht von der Hand zu weisen und die Art der Verhandlung mit in das Ermessen bei der Gestattungsentscheidung einzustellen sein dürfte, sind seine Folgerungen im Hinblick auf die während der COVID-19-Pandemie gesammelten Erfahrungen der Justiz zu pessimistisch. Im gerichtlichen Alltag kommt es viel seltener auf kommunikative Feinheiten und schwer wahrnehmbare Zwischentöne an, als professionelle Verhandler es gerne glauben oder jedenfalls glauben machen wollen. Letztlich handelt es sich bei den kommunikativen Defiziten um nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Abwägungskriterium bei der Entscheidung über die Gestattung. Tatsächlich sind bei Videoverhandlungen möglicherweise bestimmte Anzeichen einer Lüge aufgrund des Sichtfelds des Kamerabildes nicht erkennbar, andererseits ist oft gerade die Mimik des Zeugen eher sogar größer und detailreicher sichtbar. Ohnehin dürfte es für die Betrachtung der Glaubwürdigkeit in den meisten Fällen viel eher auf objektivierbarere Aspekte der Aussage, insbesondere ihre Widerspruchsfreiheit, ankommen, als auf »weiche«, kaum fassbare Merkmale der Körpersprache und vermeintliche »Lügensignale«. Erstere sind aber auch im Wege der Bild- und Tonübertragung erfassbar.


2. Protokollierung der Beweisaufnahme durch Aufzeichnung

Spannend sind im Übrigen die neuen technischen Möglichkeiten, die sich aus einer Verknüpfung der Videokonferenztechnik mit der Protokollierung der Beweisaufnahme ergeben. Gem. § 160a Abs. 1, Abs. 2 Sätze 2 u. 4 ZPO können Zeugenvernehmungen (§ 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO) unmittelbar auf einem Ton- oder Datenträger aufgenommen werden.11 Das übliche Diktat des vernehmenden Richters einschließlich der notwendigen Mitschrift und Zusammenfassung entfällt in diesem Fall. Diese unmittelbare Aufzeichnung ist vom Verbot des § 128a Abs. 3 Satz 1 ZPO nicht erfasst, weil sie nicht »die« Übertragung selbst aufzeichnet, sondern nur mittelbar einen Teil des Übertragungsergebnisses – nur die Tonübertragung.

Die unmittelbare Aufzeichnung erfolgt in der normalen Verhandlungssituation bei physischer Präsenz der Beteiligten und des Zeugen technisch durch ein mit einem Richtmikrofon versehenes (digitales) Diktiergerät. Bei Nutzung einer Videokonferenz gem. § 128a ZPO spricht nichts dagegen, anstelle der Mikrofonaufzeichnung unmittelbar die Tonspur der Videokonferenz abzugreifen, um hierdurch eine verbesserte Aufzeichnungsqualität zu erreichen. Nach § 160a Abs. 2 Satz 2 ZPO muss die Aussage im Protokoll zunächst nicht wiedergegeben werden. Es genügt darin der Hinweis, dass die Aussage vorläufig aufgezeichnet wurde. Auf die vorläufige Aufzeichnung kann gem. § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auch im Urteil verwiesen werden. Lediglich auf Antrag eines Beteiligten (bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens) oder des Rechtsmittelgerichts ist das Protokoll um den Text der Aussage (dann als Wortprotokoll) zu ergänzen. […]

Anmerkung

Dieser Aufsatz ist ursprünglich in der Zeitschrift FA – Fachanwalt Arbeitsrecht, Ausgabe 1, Seite 2 bis 9 erschienen. Über die hier behandelten Aspekte hinaus, erläutert der Autor u.a. weitere folgende praxisrelevante Themen: 

  • Persönlicher Anwendungsbereich
  • Öffentlichkeit Gestattungsentscheidung des Gerichts und
  • Aktuelle Reformbestrebungen.
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Fußnoten

9 So Windau, https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/news/gerichtsverhandlung-per-videokonferenz-keine-angst-vor-128a-zpo (abgerufen am 13.01.2023).
10 So aber v.a. Greger MDR 2020, 957 (958) m.w. Nachw.; vgl. auch Klasen, jurisPK-ERV § 128a ZPO Rn. 10 und mit einer empirischen Betrachtung Höland/Welti DRiZ 2022, 220 (221 f.).
11 S. im Einzelnen Hofmann in: jurisPK-ERV § 103 SGG Rn. 81; ferner Müller ASR 2019, 134.

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