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Recht & Verwaltung13 November, 2020

Die wichtigsten arbeitsrechtlichen Urteile 2020

Im Schatten der Pandemie sind auf europäischer und nationaler Ebene einige bahnbrechende Entscheidungen getroffen worden, die die anwaltliche Praxis im arbeitsrechtlichen Bereich verändern und künftig beeinflussen werden.

Diese Entscheidungen stellen wir in diesem Artikel vor:

 

Arbeitszeiterfassung: Was diese zwei Urteile für die anwaltliche Beratung bedeuten

Der EuGH hatte am 14. Mai 2019 entschieden, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, sämtliche Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten aufzuzeichnen (EuGH, Urteil vom 14.5.2019, C-55/18 -CCOO).

Strengere Regeln zur Arbeitszeiterfassung: Das sagt der EuGH

Anlass für das Urteil des EuGH im Jahr 2019 war ein Rechtsstreit zwischen der spanischen Gewerkschaft Federacion de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO) und der Deutsche Bank SAE in Spanien. Die Gewerkschaft wollte die Bank zur Einrichtung eines Systems zur Erfassung der täglichen von den Beschäftigten geleisteten Arbeitszeiten verpflichten. Die entsprechende spanische Norm verpflichtete den Arbeitgeber allerdings allein zur Aufzeichnung von Überstunden, ähnlich wie im deutschen Arbeitszeitrecht § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG.

Objektiv, verlässlich, zugänglich: So soll die Arbeitszeiterfassung künftig erfolgen

Der EuGH ist sich mit dieser Entscheidung treu geblieben und hat einmal mehr die Europäische Grundrechtscharta (GRCh) im Verhältnis zwischen Privaten (so genanntes Horizontalverhältnis) zur Ableitung von Arbeitnehmerrechten herangezogen. Die europäischen Richter nahmen nach dieser Entscheidung eine Verpflichtung der Mitgliedsstaaten an, Arbeitgeber künftig zur Aufzeichnung sämtlicher Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten zu verpflichten, und zwar unter Verwendung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems.

Der EuGH verweist hierbei auf Art. 31 Abs. 2 GRCh und dem hierin verbürgten Grundrecht eines jeden Arbeitnehmers auf Begrenzung seiner Höchstarbeitszeit, das dahingehend auszulegen sei, dass eine Verpflichtung zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit über die Aufzeichnung einzelner Überstunden hinausgehe. Dazu, wie ein solches System zur Arbeitszeitaufzeichnung in der Praxis aussehen soll, schweigt der EuGH allerdings.

Unmittelbare Pflicht zur Arbeitszeiterfassung: Das schlussfolgert das Amtsgericht Emden

Während die juristische Fachliteratur dieses Urteil überwiegend als bloße Handlungsanweisung für den nationalen Gesetzgeber versteht, ging das Amtsgericht Emden mit seiner Entscheidung vom 20.02.2020 deutlich weiter und bejaht eine unmittelbare Verpflichtung des Arbeitgebers zur Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten.

Der Kläger, ein Bauhelfer, hatte seinen Arbeitgeber nach einer mehrwöchigen Tätigkeit auf vermeintlich noch ausstehende Vergütung verklagt. Er behauptete, er habe 195,5 Stunden gearbeitet, sei aber nur für 183 Stunden entlohnt worden. Zum Nachweis des beanspruchten Differenzlohns legte er handschriftliche Aufzeichnungen vor. Der Arbeitgeber entgegnete, dass die Arbeitsstunden mit Hilfe eines Bautagebuches aufgezeichnet worden seien.

Handschriftliche Aufzeichnungen genügen den Anforderungen an eine Arbeitszeiterfassung

Die Emdener Arbeitsrichter gaben der Klage des Bauhelfers statt. Der Arbeitnehmer sei seiner Darlegungslast hinreichend nachgekommen. Der Verweis des Arbeitgebers auf das Bautagebuch genüge den Anforderungen an die sekundäre Darlegungslast nicht. Vielmehr seien die Art. 3, 5 und 6 der Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG) nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 32 Abs. 2 GRCh dahingehend auszulegen, dass den Arbeitgeber eine unmittelbare Pflicht zur Arbeitszeiterfassung mithilfe eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems treffe (Arbeitsgericht Emden, Urteil vom 20.02.2020, 2 Ca 94/19). 

Folgen der EuGH-Entscheidung für „Überstundenprozesse“

Auch das BAG hat sich bereits zu den Folgen von Zeiterfassungssystemen auf die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers geäußert: Trägt der Arbeitnehmer in einem „Überstundenprozess“ vor, an welchen Tagen er zu welchen Zeiten gearbeitet bzw. sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Verfügung gestellt habe, muss der Arbeitgeber im Bestreitensfall beweisen,

  • welche Tätigkeiten er dem Arbeitnehmer konkret zugewiesen hat bzw.
  • an welchen Tagen und zu welchen Zeiten der Arbeitnehmer diesen Weisungen nicht nachgekommen ist.

Gelingt dem Arbeitgeber dieser Beweis nicht, gelten die vom Arbeitnehmer dargelegten Arbeitsstunden als zugestanden (BAG, Urteil vom 26.06.2019, 5 AZR 452/18).

Arbeitszeiterfassung in Zeiten von Corona: Ein Ausblick auf 2021

Die juristische Fachliteratur spricht der Entscheidung des EuGH zur Arbeitszeiterfassung eine unmittelbare Wirkung für Arbeitsvertragsparteien in Deutschland ab. Ein Grund zur Entwarnung ist das aber nicht. Das Bundesarbeitsministerium hat bereits einen Gesetzesentwurf zur Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung zur verpflichtenden Arbeitszeitauszeichnung angekündigt, wenngleich auch offen gelassen wurde, wann damit zu rechnen ist. Am 14.09.2020 hat zudem bereits eine Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Thema „gesetzliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung“ im Bundestag stattgefunden (Deutscher Bundestag, Mitteilung vom 14.09.2020).

Praxis-Tipp: Arbeitszeit muss rechtssicher dokumentiert werden

Unabhängig davon sollten Arbeitgeber heute ohnehin auf eine stichhaltige Arbeitszeitdokumentation setzen. Vor allem in Zeiten von Corona. Betriebe, die Kurzarbeit angeordnet haben, müssen mit einer Abschlussprüfung der Arbeitsagenturen rechnen, bei der die Voraussetzungen der Kurzarbeit nachgewiesen werden müssen. Spätestens hierbei sind Arbeitgeber verpflichtet, den Arbeitsanfall ihrer Mitarbeiter durch eine stichhaltige Arbeitszeitaufzeichnung darzulegen.

Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz haben bekanntlich empfindliche Folgen für Arbeitgeber. Doch noch nie war die Gefahr so groß wie im Jahr 2020. Der Grund: Mobiles Arbeiten und Homeoffice zur Eindämmung der Pandemie.

Aktuelles Urteil zu Nebentätigkeit: Wird zu viel gearbeitet, kann ein Vertrag nichtig sein

Wer sein Portemonnaie zusätzlich zur Hauptbeschäftigung noch etwas auffüllen möchte, darf dies nur in den engen Grenzen des Arbeitszeitgesetzes tun. Das heißt:

  • Die täglichen Höchstarbeitszeiten müssen eingehalten werden, § 3 ArbZG, dürfen also in der Regel 8 Stunden nicht überschreiten. Die tägliche Arbeitszeit kann auf bis zu 10 Stunden verlängert werden, allerdings dürfen dann innerhalb von 6 Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt 8 Stunden werktäglich nicht überschritten werden.
  • Dem Arbeitnehmer müssen die erforderlichen Ruhepausen während der Einsatzzeiten gewährt werden, § 4 ArbZG.
  • Die elfstündige Ruhezeit zwischen den täglichen Arbeitszeiten muss beachtet werden, § 5 Abs. 1 ArbZG.

Überschreiten der Höchstarbeitszeit durch mehrere Nebenjobs: Das sind die neuen Folgen

Bisher galt: Überschreitet ein Arbeitnehmer durch Ausübung einer Nebentätigkeit die zulässigen Grenzen des Arbeitszeitgesetzes, hat der Hauptarbeitgeber einen Anspruch darauf, dass die Nebentätigkeit entsprechend beschränkt wird.

Anlass des Rechtsstreits vor dem Arbeitsgericht war eine Kündigung. Im Kündigungsschutzverfahren stellte sich heraus, dass der Arbeitnehmer noch einen weiteren Arbeitsvertrag hatte, der noch nicht beendet war. Rechnete man die Arbeitszeiten beider Arbeitsverträge zusammen, ergab sich eine Wochenarbeitszeit von mehr als 48 Stunden. Der Kläger meinte, dass dies an der Wirksamkeit der beiden Arbeitsverhältnisse nichts ändere. Allenfalls der Teil, der über 48 Stunden läge, sei möglicherweise nicht zulässig. Immerhin habe er in keinem der beiden Arbeitsverhältnisse die jeweils zulässige Höchstdauer der Arbeitszeit überschritten.

LAG Nürnberg: Verstoß gegen das Arbeitszeitgesetz lag vor

Ist die Überschreitung der zulässigen Höchstarbeitszeit nicht Ergebnis eines Arbeitsvertrages, sondern mehrere Arbeitsverträge, ist der zeitlich später abgeschlossene Arbeitsvertrag wegen Verstoß gegen ein Verbotsgesetz (§ 3 ArbZG) nichtig (Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 19.05.2020, 7 Sa 11/19).

Praxis-Tipp: Prüfen Sie die Voraussetzungen für die Aufspaltung des Arbeitsverhältnisses

Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass eine vollständige Nichtigkeit des Vertrages nicht im Sinne des Arbeitnehmers ist, könnte auch eine Aufspaltung des Arbeitsverhältnisses in einen wirksamen und einen unwirksamen Teil erfolgen. Das setzt aber voraus, dass beide Vertragsparteien dies bei Begründung des Arbeitsverhältnisses gewollt hätten, wäre ihnen bekannt gewesen, dass der Vertrag teilweise nichtig ist. Ob dieser hypothetische Wille seitens des Gerichts unterstellt werden kann, hängt von den Gegebenheiten des Einzelfalles ab. Bei der Bearbeitung des arbeitsrechtlichen Mandats sollten diese Umstände daher frühzeitig abgeklärt und berücksichtigt werden.

Beispiel: Im oben genannten Urteil wurde der Arbeitnehmer als Wasserwart beschäftigt. Die Überschreitung der Arbeitszeit basierte auf Wartungs- und Pflegearbeiten und damit Tätigkeiten, die für einen Wasserwart notwendig sind.

Folge: Dem Arbeitgeber konnte kein hypothetischer Wille zur Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit geringerer Stundenzahl unterstellt werden. Eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses war damit nicht mehr nötig. Auch ein Kündigungsschutz bestand nicht. Das Arbeitsverhältnis war insgesamt nichtig.

Neuer Auskunftsanspruch: Dieser Trick schützt vor Annahmeverzugslohn

Bisher liefen Kündigungsschutzprozesse häufig nach einem ähnlichen Schema ab. Seit diesem Jahr gibt es eine wichtige Neuerung, die Teil der Beratung des Mandanten sein sollte: Ein neuer Auskunftsanspruch zur Vermeidung, zumindest aber Reduzierung des Annahmeverzugslohns.

 

Annahmeverzugslohn: Das machte Kündigungen bisher oft teuer

Bisher trugen Arbeitgeber das Risiko, im Falle des Unterliegens im Kündigungsschutzprozess Annahmeverzugslohn zahlen zu müssen. Der Grund: Wird die Kündigung für unzulässig erklärt, besteht das Arbeitsverhältnis fort und der Arbeitnehmer muss weiterbeschäftigt werden. Zusätzlich entsteht ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Annahmeverzugslohn nach § 11 KSchG. Dieser soll die Lücke zwischen Ablauf der Kündigungsfrist und dem Urteilsspruch schließen. Je nach Dauer des Kündigungsschutzverfahrens, kann das zu einem enormen finanziellen Risiko des Arbeitgeber-Mandanten werden.

Das Gesetz erlaubt eine Kürzung des Annahmeverzugslohns aus Arbeitgebersicht nur, wenn

  • der Arbeitnehmer in diesem Zeitraum entweder eine Vergütung aus einer anderen Tätigkeit tatsächlich erzielt (§ 11 Nr. 1 KSchG), oder
  • er böswillig unterlassen hat, eine zumutbare Beschäftigung anzunehmen (§ 11 Nr. 2 KSchG),
    was für den Arbeitgeber bisher nur schwer zu beweisen war.

Mit diesem neuen Auskunftsanspruch werden Arbeitgeberrechte gestärkt

Das Problem der Beweisbarkeit ist ab sofort vom Tisch. Das BAG hat seine Rechtsprechung in diesem Jahr geändert und Arbeitgebern, die auf Annahmeverzugslohn in Anspruch genommen werden, einen Auskunftsanspruch zugesprochen (BAG, Urteil vom 27.05.2020, 5 AZR 387/19).

Danach muss der Arbeitnehmer ab sofort die ihm von der Agentur für Arbeit oder dem Jobcenter unterbreiteten Vermittlungsvorschläge preisgeben, und zwar unter Nennung von

  • Art der Tätigkeit,
  • Arbeits- bzw. Einsatzort und
  • Vergütung.

Das BAG begründet diesen Anspruch mit einer Nebenpflicht des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis nach § 242 BGB, Treu und Glauben.

Praxis-Tipp: Nutzen Sie den Auskunftsanspruch auch prozesstaktisch

Um einem Arbeitnehmer böswilliges Unterlassen zu unterstellen, muss der Arbeitgeber beweisen, dass die Aufnahme der anderweitigen Tätigkeit auch zumutbar gewesen wäre. Welche Maßstäbe hierbei gelten, hat das BAG nicht beantwortet. Der neue Auskunftsanspruch dürfte sich künftig aber zumindest als wirksames Mittel im Rahmen von Vergleichsverhandlungen nützlich machen.

Dem Mandat im Kündigungsschutzprozess ist daher zu empfehlen, gekündigte Arbeitnehmer nach Ablauf der Kündigungsfrist in regelmäßigen Abständen zur Auskunft über anderweitig erzielten Erwerbslohn und erfolgte Vermittlungsversuche aufzufordern.

Klauselrecht: Welches Wort in keiner Ausschlussklausel mehr stehen darf

Ein beliebtes Instrument, Arbeitgeber-Mandanten vor bösen Überraschungen zu bewahren, sind Ausschlussklauseln. Anfang des Jahres hat das BAG eine beliebte Formulierung für unwirksam erklärt.

Der ehemalige Arbeitnehmer verlangte nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses von seinem Arbeitgeber noch offene Spesen. Der Arbeitgeber lehnte dies ab. Rund 6 Monate später forderte der ehemalige Mitarbeiter den Arbeitgeber erneut zur Zahlung auf. Dieses Mal verwies der Arbeitgeber auf die zweite Stufe der im Arbeitsvertrag stehenden Ausschlussklausel. Diese lautete wie folgt:

(2) Lehnt die Gegenseite den Anspruch ab oder erklärt sie sich nicht innerhalb von zwei Wochen nach Geltendmachung des Anspruchs dagegen, so verfällt der Anspruch, wenn er nicht innerhalb von drei Monaten nach der Ablehnung oder dem Fristablauf gerichtlich geltend gemacht wird.

Der Kläger hielt diese Klausel für unwirksam.

Die Erfurter Richter stellten sich auf die Seite des Klägers und erklärten die Ausschlussklausel für unwirksam. Wegen des Wortes: „dagegen“. Durch dieses Wort werde die Klausel zu weit gefasst und benachteilige den Arbeitnehmer unangemessen. Sie verstoße daher gegen das Transparenzverbot nach § 307 Abs. 1 S. 2 BGB.

 

Die Ausschlussklausel war unwirksam

Die Klausel suggeriert, dass ein Anspruch auch dann gerichtlich geltend gemacht werden muss, wenn die Gegenseite die Erfüllung des Anspruches zugesagt hat, ihn anerkannt oder streitlos gestellt hat, damit er nicht verfalle. Das ist aber unzutreffend. Ansprüche, die etwa mit einer Lohnabrechnung vorbehaltlos anerkannt werden, müssen nicht gerichtlich geltend gemacht werden, um sie vor dem Verfallen zu bewahren. Selbst dann nicht, wenn der Anspruchsgegner sie später bestreitet (BAG, Urteil vom 03.12.2019, 9 AZR 44/19).

 

Praxis-Tipp: Diese Ausschlussklauseln sind weiterhin zulässig

Zweistufige Ausschlussklauseln, die regeln, dass der Anspruch verfällt, wenn er nicht

  1. innerhalb von drei Monaten nach Ablehnung oder
  2. innerhalb von drei Monaten nach Fristablauf, wenn sich die Gegenseite innerhalb von zwei Wochen nach Geltendmachung nicht erklärt, gerichtlich geltend gemacht wird, sind nach wie vor zulässig.

Ausschlussklauseln sind aus Arbeitgebersicht wichtig, um sich vor unvorhergesehenen Ansprüchen aus bestehenden oder beendeten Arbeitsverhältnissen zu schützen. Ein Allheilmittel sind sie jedoch nicht.

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