eingewoehung
Recht & Verwaltung23 Februar, 2023

Was es für ein Kind heißt, in der Gruppe anzukommen

Prof. Dr. phil. Dipl. Psych. Rainer Dollase, bis zur Pensionierung 2008 Professor für Psychologie, Schwerpunkt Entwicklung und Erziehung, an der Universität Bielefeld.
Sabina Sabic, Psychologin (M.A.) und in der Ausbildung zur Fachpsychologin.

Wenn sich ein Kind nicht an die Kita gewöhnen will, es Ängste hat, dann ist dies eine kritische Situation für alle Beteiligten: Eltern, Kinder und Erzieher:innen. Oft gibt es Stress und gegenseitige Schuldzuweisungen. Dabei handelt es sich bei einer Eingewöhnung um einen Übergang in einen neuen „Sozialisationskontext“ (eine fachsprachliche „Transition“). Der Unterschied zwischen Familie einerseits und Kita andererseits ist für das Kind „grundstürzend“ riesig und Erwachsene machen sich das manchmal nicht richtig klar, wenn sie etwas verständnislos auf die sich schlecht eingewöhnenden Kinder schauen.Durch psychologische Untersuchungen von Thomas und Chess (1977) weiß man seit langer Zeit, dass Kinder von Geburt an mit einer unterschiedlichen Anpassungsfähigkeit in neue Situationen ausgestattet sind. Man vermutet, dass es zu großen Teilen angeborene Unterschiede sind. In der Temperamentsforschung wurden diese Unterschiedlichkeiten, bezogen auf die Anpassung an neue Kontexte, als „slow to warm up“ (langsam auftauende Kinder), „easy“ (leicht, einfach) oder „difficult“ (schwierig) kategorisiert. Gerade an solchen Übergängen – Familie-Kita –, merkt man sehr deutlich, ob sich ein Kind gut, schlecht oder nach einer gewissen Zeit an den neuen Sozialisationskontext gewöhnt. Die Kinder können nichts dafür, wenn Anpassung schwierig ist. Sie stehen unter starkem Stress und man kann ihren Stress auch an physiologischen Indikatoren merken. Wir halten fest: Schwierig einzugewöhnende Kinder brauchen Verständnis und Geduld – keine Strafen, keine Beschimpfungen („Stell Dich nicht so an!“).

Erziehungsvorstellungen von Eltern und Erzieher:innen unterscheiden sich oft

Man muss sich klarmachen, dass sich Kinder in den ersten Lebensjahren an die häuslichen Regeln, an die Routinen, das Essen, an die Umgangsformen und Ähnliches zum Teil mit sehr viel Mühe gewöhnt haben und nun froh sind, dass sie im familiären Kontext einen Anpassungsgrad erreicht haben, der ihnen subjektiv ein fröhliches, sicheres und richtiges Leben und das Gefühl, diesen Kontext zu meistern, ermöglicht. Nun kommt bei manchen schon im ersten Lebensjahr (bei anderen im dritten) ein völlig neuer Sozialisationskontext hinzu, der wegen der großen Zahl von Kindern auch ganz andere Regeln und Umgangsformen erfordert. Dass Erzieher:innen in erster Linie ein „Gruppenmanagement“ (mit vielen gleichzeitig zurechtkommen) zu leisten haben, d.h. eine Regel- und Routinen-Struktur für Gruppen und nicht für Einzelkinder aufgebaut haben, muss immer wieder betont werden. Gerade von engagierten Eltern oder solchen, die sich besonders mit dem Wohlergehen ihres eigenen Sprösslings identifiziert haben, wird dieser Umgangsstil in der Kita immer kritisch beäugt. Sie haben Erwartungen an den individuellen Umgang mit ihrem Kind, die Erzieher:innen bei der Gruppengröße kaum erfüllen können. Frustrationen der Eltern, der Erzieher:innen und der Kinder vor allem, sind also völlig normal. Eltern merken nach den ersten Wochen mit Sicherheit, dass die Kinder anderer Eltern auch völlig anders erzogen werden als ihre eigenen. Auch diese Erfahrung kann verstörend sein.

Kita-Gruppen als besondere Herausforderung

Die Organisation von Gruppen im Elementarbereich löst das Betreuungsproblem der Eltern, aber Gruppen schaffen auch eine Menge neuer Probleme. Auf Seiten der Erzieher:innen könnten das folgende sein:

  1. Wenig Zeit für individuelle Kontakte zu einzelnen Kindern.
  2. Kinder reagieren unterschiedlich auf Anweisungen und Erklärungen der Erzieher:innen.
  3. Man benötigt viel Zeit, um Regeln in der Gruppe durchzusetzen.
  4. Es ist mehr Material nötig, um Streitereien um attraktives Material zu verhindern.
  5. Wegen des Zwangs zur Gerechtigkeit kann man kaum Ausnahmen für den Einzelfall machen, auch wenn das vernünftig wäre.
  6. Man muss ständig auf der Hut sein, weil jedes Verhalten gegenüber einem Kind auch von den anderen Kindern beobachtet wird. So kann es zu unbeabsichtigten Nebenwirkungen kommen: Die Kinder vergleichen sich untereinander, werden neidisch und aggressiv gegen andere, die scheinbar besser sind.
  7. Die Kinder untereinander haben Sympathie aber auch Antipathie füreinander. Dadurch entstehen Konflikte und Störungen der pädagogischen Arbeit. Die Eingewöhnungsprozesse sind in dieses permanente Multitasking als zusätzliche Aufgabe eingebunden.

Aus der Sicht der Kinder ist die Komplexitätserhöhung von Spiel und Arbeit durch die Anwesenheit einer größeren Zahl anderer Kinder ebenfalls erheblich. Die Belastung der Erzieher:innen spiegelt sich in den Herausforderungen der Kinder (vgl. Dollase 2015):

  1. Kinder müssen Einschränkungen in der Wahl ihrer Beschäftigung und der freien Beweglichkeit im Raum verarbeiten.
  2. Sie werden durch Materialmangel und durch Konflikte mit anderen frustriert.
  3. Sie müssen Bedürfnisbefriedigungen aufschieben können bzw. oft sogar darauf verzichten.
  4. Lärm und Konflikte müssen als Begleiterscheinung ausgehalten und verarbeitet werden.
  5. Einige Kinder müssen zu einem erheblichen Teil ungünstige soziale Positionen, dauerndes Verlieren und Außenseiterrollen erdulden.
  6. Sie müssen erhebliche Leerlaufzeiten ertragen, die durch Unterforderung, Mangel an interessanter Tätigkeit, Behinderung durch andere Kinder, Unachtsamkeit der pädagogischen Fachkraft usw. entstehen.

Schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es Analysen der spezifischen Nachteile von Gruppen. So haben etwa die Autoren Jackson und Wolfson (1968) von verschiedenen Frustrationsquellen in Gruppen des Elementarbereichs berichtet, sogenannten Umwelteinschränkungen (environmental force units (EFU); vgl. Berk 1971):

  1. Der Wunsch eines Kindes wird durch den Wunsch eines anderen Kindes beeinträchtigt. Beide wünschen zum Beispiel auf der Schaukel zu sitzen und nur ein Kind kann dort schaukeln.
  2. Der Wunsch eines Kindes wird frustriert durch die Erwartung der pädagogischen Fachkraft. Diese erwartet Aufmerksamkeit oder einen Wechsel der Beschäftigung, was das Kind im Augenblick nicht möchte.
  3. Die Gruppe kann den Wunsch eines Kindes ohne Absicht behindern. Weil es so viele Kinder sind, muss man hin und wieder warten, einen Wunsch nach Tätigkeiten zurückstecken, den Ärger über Gedränge ertragen etc.
  4. Der Wunsch eines Kindes kann mit den institutionellen Regeln und Vorschriften in Konflikt geraten und frustriert werden. Man kann die Einrichtung nicht verlassen; man möchte gerne bei der Großmutter bleiben, aber das ist jetzt nicht möglich. Das Kind muss warten, bis es abgeholt wird.
  5. Der Wunsch eines Kindes kann auch an der eigenen Inkompetenz scheitern. Ein Kind möchte im Sandkasten eine U-Bahn bauen, aber der Sand fällt in sich zusammen und der begonnene Tunnel kann nicht fertiggestellt werden.
  6. Der Wunsch eines Kindes nach Beantwortung einer Frage wird dadurch frustriert, dass die pädagogische Fachkraft nicht bemerkt, dass das Kind eine wichtige Frage hat. Die Fachkraft kann es nicht merken, weil es so viele Kinder in der Gruppe gibt, die alle einen besonderen Wunsch haben.
  7. Der Wunsch eines Kindes kann dadurch frustriert werden, dass es Umweltbegrenzungen gibt, d.h. zum Beispiel einen Bereich, in dem das Kind nicht spielen darf.

Die Belastungen der Eltern ergeben sich nun aus den Belastungen von Erzieher:innen und Kindern, die sich eingewöhnen müssen oder wollen. Ihnen obliegt es, die Haltungen des Kindes zu Krippe oder Kita zu bilden, Stabilität in der Beziehung zu den Eltern zu gewährleisten, Neues nicht immer als Problem darzustellen und trotz alledem sich auf die berufliche Arbeit zu konzentrieren und diese mit Motiviertheit zu erledigen.

Rolle der bisherigen Bezugspersonen 

Traditionellerweise werden die Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung an die Kita mit der Enge der Bindung an die häusliche Bezugsperson verbunden. Das ist ein naheliegender Gedanke, aber er stimmt in den meisten Fällen nicht, da die neuen Anforderungen an das kleine Kind einfach riesig sind. Hinzu kommt ein meist nicht bekannter Zusammenhang zwischen „sicherer Bindung“ und „Eingewöhnung in die Kita“. Für ein sicher gebundenes Kind ist es eher normal, bei Eintritt in die Kita einen leichten Trennungsschmerz zu erleben, manchmal auch zu weinen, wenn die Bezugsperson sie der fremden Personen überlässt. Sicher gebundene Kinder kann man auch daran erkennen, dass sie sich freuen, wenn ihre Bezugsperson kommt und sie abholt.

Falls sie sich nicht freuen und die Bezugspersonen gar ignorieren, kann man eine „unsichere Bindung“ oder eine „ambivalente“ Beziehung des Kindes zu seiner Bezugsperson vermuten. Auch übermäßige hysterische Reaktionen des Kindes (z.B. Festklammern an der Bezugsperson und Schreien) sind in diesem Sinne nicht Indikator einer sicheren Bindung, sondern zeigen, dass das Kind sich der Bezugsperson nicht sicher ist und deswegen Angst hat sie zu verlieren. Strenge ist hier ohnehin nicht angesagt. Es ist immer besser ruhig und zugewandt zu dem Kind zu bleiben und ihm zu helfen seine Eingewöhnungsprobleme zu überwinden.

Hilfreiche Überlegung zur Gestaltung des Eingewöhnungsgeschehens

Aus unserer Warte gilt es dreierlei zu bedenken, wenn man darüber nachdenkt, die Eingewöhnung zu erleichtern:

  1. Probleme gibt es in jeder Art von institutioneller Erziehung. Es ist undenkbar, dass es Kita-Gruppen oder Schulklassen gibt, in denen es nie Probleme gibt.
  2. Es ist deshalb eine professionelle Haltung gegenüber diesen Problemen zu entwickeln und die Bereitschaft du Kompetenz, sie gemeinsam mit den Eltern und den Kindern zu lösen.
  3. Eine erfolgreiche Eingewöhnung kann nur als individuelle Eingewöhnung eines Kinder und seiner Familie an eine Kita und niemals nach „Schema F“ für alle Kinder gleich gestaltet werden.

Fazit

Der Eingewöhnungsprozess in die Kita ist für Eltern, Kinder und Erzieher:innen eine normative Krise, weil es sich um einen Bruch in den Sozialisationskontexten des Kindes handelt und nicht nur das Kind darunter leidet, sondern ebenso die Eltern und Erzieher:innen. Deswegen lohnt es sich in jeder Einrichtung die eigenen Eingewöhnungsprozeduren zu hinterfragen. Unbedingt beachtet werden muss, dass das Gruppenverhalten von kleinen Kindern noch wenig entwickelt ist und sie den Halt von einer erwachsenen Bezugsperson suchen und brauchen, um mit anderen Kindern in Kontakt treten zu können. Deshalb werden Erzieher:innen in Krippen idealerweise weniger Kinder zu Betreuung anvertraut. Das dient nicht nur der sicheren Eingewöhnung. Es hat auch erhebliche Konsequenzen für das Klima in der Kindergruppe im späteren Kita-Alltag. Kinder suchen andere Menschen unterschiedlichen Alters, um mit ihnen zu spielen und zu lernen. Jedoch beziehen sie sich eher auf eine Clique, denn auf eine größere Gruppe. Dort kann es viel leichter zu Konflikten kommen und es ist für die Erzieher:innen schwerer, die Unterschiedlichkeit zu händeln. Deshalb ist es auch bereits in der Eingewöhnung hilfreich, einige ältere Kita-Kinder als Tutoren oder Paten der neu aufzunehmenden Kinder einzusetzen. Die haben dann auch die Aufgabe, das neue Kind vor den Ruppigkeiten des Kindergarten- oder Krippenalltags zu schützen. Gut sind immer auch personale Überschneidungen zwischen Familienkontext und Kita-Kontext, d.h. man hat Freunde aus der Nachbarschaft, die schon in der Kita sind, man kennt das Personal, dass sich in einem Hausbesuch vorgestellt hat, das Kind kann nachmittags, wenn die Gruppen nicht so groß sind, schon mal hospitieren oder die Eltern bleiben für eine halbe Stunde noch in der Einrichtung, wenn sie das Kind gebracht haben. Es empfiehlt sich eine freundliche Selbstverständlichkeit dem Kind gegenüber zu zeigen, Emotionen nicht zu unterdrücken, dennoch die Haltung zu demonstrieren, dass der Vorgang etwas ganz Normales ist. Kindern sollte vermittelt werden, welche interessanteren Spielzeuge und Spielmöglichkeiten die Kita zu bieten hat. Nach früheren Umfragen (Dollase 1979) finden Kinder andere Kinder, die mit ihnen befreundet sind, gut, aber auch die Möglichkeit bestimmte Spiele und Tätigkeiten auszuführen, die sie zu Hause nicht haben.

Literatur

Beller, K. E. (1994): Eingewöhnung: Eine Unterstützung aller daran beteiligten Personen. In: Landeshauptstadt München (LHM); Sozialreferat (Hrsg.): Modellprojekt Frühförderung von Kleinstkindern durch Unterstützung junger Familien bei der Erziehungsaufgabe und durch pädagogische Qualifizierung von Krippen. Abschlussbericht Projektteil C: Zusätzliche Intensivierung der Elternarbeit in der Krippe. München
Berk, L.E. (1971): Effects of Variations in the Nursery School Setting on Environmental Constraints and Children's Modes of Adaptation, Child Development, Vol. 42, No. 3 (Sep., 1971), pp. 839-869
Braukhane, K., Knobeloch, J. (2011): Das Berliner Eingewöhnungsmodell- Theoretische Grundlagen und Praktische Umsetzung. KiTa Fachtexte
Dollase, R. (1979): Sozial-emotionale Erziehung in Kindergarten und Vorklasse. Hannover: Schroedel
Dollase, R. (2015): Gruppen im Elementarbereich. Stuttgart: Kohlhammer
Laewen, H. J.; Andres, B. & Hédervári, E. (2003): Die ersten Tage – ein Modell zur Eingewöhnung in Krippe und Tagespflege. Weinheim: Beltz, 4. Auflage.
Thomas, A., & Chess, S. (1977): Temperament and development. Brunner/Mazel
Winner, A (2015): Das Münchener Eingewöhnungsmodell Theorie und Praxis der Gestaltung des Übergangs von der Familie in die Kindertagesstätte, KiTa Fachtexte

Bildnachweis: nadezhda1906/stock.adobe.com
Passende Themen durchstöbern
DiGitale Expertenlösung
Kita Recht & Praxis
Ihre praxisorientierte Online-Bibliothek zu allen zentralen Steuerungsaufgaben von Personalführung bis Qualitätsmanagement in der Kita. Immer aktuell und verlässlich informiert bleiben und rechtssicher handeln mit Kita Recht & Praxis.
Fachzeitschrift für Leitungen, Fachkräfte und Träger der Kindertagesbetreuung:

»KiTa aktuell spezial«

Back To Top