Gottfried Schilling, Pädagoge, Schreiner und Raumplaner
Unterbesetzte Teams und keine neuen Kolleg:innen in Sicht: Der Fachkräftemangel sorgt für jede Menge Stress und Frust in deutschen Kitas. Angesichts fehlenden Nachwuchses und eines angespannten Arbeitsmarktes in vielen Branchen, wird sich die Situation in absehbarer Zeit kaum ändern. Das heißt: Kita-Träger sollten darüber nachdenken, wie sie das Umfeld so gestalten können, dass dies ihre Teams optimal entlastet. Erstaunlicherweise bleibt bislang ein zentrales Thema in der Maßnahmen-Diskussion außen vor: die Raumgestaltung. Dabei gilt, was der Raum als dritter Erzieher regelt, muss die Fachkraft nicht regeln. Gute Räume können Folgendes bieten:
Orientierung geben
Ein Puppenwagen, ein Hammer, ein Telefon, ein Bilderbuch … Schwierig zu sagen, welchem Zweck ein Raum dienen soll, in dem viele ganz unterschiedliche Dinge ins Augen fallen. Wer hingegen ein Zimmer betritt, in dem Hammer, Säge, Schraubendreher, Holz und Nägel liegen, hat sofort eine Idee, was er oder sie hier tun könnte. Dieser Raum macht eine klare Aussage und gibt daher Orientierung. Er erleichtert es Kindern, sich für eine Tätigkeit zu entscheiden und dabei zu bleiben. In einer sorgfältig vorbereiteten Umgebung senden zusammengehörige Dinge, die gemeinsam präsentiert werden, klare Spielanregungen aus. Dadurch finden Kinder selbstständig in ein konzentriertes Spiel, ohne dass Fachkräfte ihnen dazu Impulse geben müssen. Das entspannt den Alltag erheblich.
Konfliktpotenziale minimieren
Es gibt typische Situationen, die Konflikte verursachen. Eine davon sind Störungen beim Spiel. Sie haben häufig damit zu tun, dass keine ausreichend große, ungestörte Spielfläche vorhanden ist. Ein Beispiel: Kinder, die mit Bauklötzen eine Mauer gebaut haben, ärgern sich, wenn andere mit einem Puppenwagen dagegen fahren. Auch Personen, die etwas aus einem Regal an der Wand holen möchten und dabei durch ihren Spielbereich laufen, stören.
Wer Funktionsbereiche sinnvoll kombiniert bzw. dafür unterschiedliche Räume nutzt, vermeidet solche Konflikte. Außerdem ist es wichtig, Spielflächen so zu positionieren, dass sie von Laufwegen unbeeinträchtigt bleiben.
Ist das in Ihrer Kita gelungen? Eine Zeichnung kann Aufschluss darüber geben. Dazu skizzieren Sie einen groben Grundriss des Raumes inklusive der Möblierung. Anschließend markieren Sie alle Verkehrswege. Dabei beachten Sie nicht nur die Verbindung von der Tür zum Ausgang ins Außengelände, sondern auch alle Wege, die zu Tischen, Stühlen, Regalen und Schränken führen. Wahrscheinlich merken Sie, dass kaum eine Fläche übrigbleibt, die nicht von Linien durchkreuzt wird. Nun gilt es, Verkehrswege zu konzentrieren. Wir platzieren aus diesem Grund zum Beispiel Regale im Raum statt an den Wänden. Wer etwas daraus holen möchte, bewegt sich dann nur noch auf dem Hauptlaufweg.
Nicht in ausreichender Menge vorhandenes Spielmaterial sorgt ebenfalls oft für Konfliktstoff. Gibt es beispielsweise sehr viele Bauklötze, kann eine Kindergruppe über lange Zeit damit etwas aufbauen, ohne dass sich die Kinder um die Steine streiten müssen.
Ein weiteres konfliktträchtiges Thema ist das Aufräumen. Wissen Kinder, dass sie ihre Bauten später direkt wieder wegräumen müssen, lassen sie sich weniger auf den Konstruktionsprozess ein. Sie holen dann gar nicht erst alle Bauklötze heraus und sind eher geneigt, planlos im Haus umherzustromern. Es sollte daher Flächen geben, auf denen Kinder ihre Werke stehen lassen können.
Für Ruhe sorgen
„Es ist zu laut!“ Diese Klage äußern pädagogische Fachkräfte und Kinder oft gleichermaßen. Der hohe Geräuschpegel stresst sie. Kita-Teams können zunächst versuchen, Lärmquellen zu reduzieren: An Tischen verursacht das Stühlerücken zum Beispiel viel Lärm. Wer stattdessen feststehende Bänke wählt, vermeidet das. Tische mit sogenanntem Flüsterbelag dämpfen den Schall, der beim Abstellen von Gläsern und Geschirr entsteht.
Häufig reichen solche Maßnahmen allerdings nicht aus. Dann ist es sinnvoll, eine Fachperson zu Rate zu ziehen, die die Nachhallzeiten in den Räumen misst und Gegenmaßnahmen vorschlägt. Der Nachhall entsteht durch die vielen Möbel-Oberflächen, Glasscheiben, harten Böden und glatten Wände. Sie werfen die Schallwellen zurück. Dies bewirkt, dass wir – wie bei einem Echo – Stimmen und Geräusche im Raum zeitversetzt erneut hören. Auch wenn das so kurz hintereinander geschieht, dass wir es nicht bewusst wahrnehmen, kann der Effekt Stress auslösen. Vor allem wenn mehrere Personen gleichzeitig reden, erschwert der Nachhall die Verständigung sehr. Die Menschen verstärken die Lärmbelästigung nämlich, weil sie zwangsläufig immer lauter sprechen, um trotzdem gut gehört zu werden.
Da in Kitas zumeist viele Personen im Raum sprechen, ist dort eine geringe Nachhallzeit von 0,5 Sekunden vorgesehen. Zum Vergleich: In Kirchen liegt sie in der Regel bei sechs bis zehn Sekunden. In Kitas kommen daher oft Schallschutzdecken und -elemente zum Einsatz, die den Schall absorbieren und eine angenehme Atmosphäre im Raum schaffen. Weil es auf die richtige Dimensionierung und Platzierung der Schallschutzelemente ankommt und falsche akustischen Maßnahmen die Hörsamkeit auch verschlechtern können, ist Sachverstand in diesem Punkt besonders wichtig.
Stress reduzieren
Es gibt einen Stressfaktor in Kitas, der kaum Gegenstand der Diskussion ist: Die Buntheit. Viele Kita-Planer:innen assoziieren Kindheit mit starken (Primär)-Farben und setzen sie großzügig ein. Zumeist sollen sie gleichzeitig als Orientierungshilfe dienen. Tatsächlich schreien die vielen kräftigen Farben die Personen, die den Raum nutzen, regelrecht an. Oft steigern Fachkräfte den Effekt unwissentlich noch, indem sie zu viele Dekorationen anbringen und Werke ausstellen, die in der Summe dann ein Gefühl von Willkür erzeugen. Orientierung ist damit kaum noch möglich.
Die Kinder selbst bringen ausreichend Buntheit mit in die Einrichtung. Die Kita-Räume dürfen sich daher zurückhalten und ihren Nutzer:innen Bühne und Rahmen sein. Natürlich anmutende Farben mit Braun- oder Grauanteil eignen sich dafür gut. Ein dunklerer Ton für den Boden, die größte Fläche, trägt zu einer Erdung bei und vermittelt Sicherheit. Kräftige Farben kommen nur vereinzelt zum Einsatz, dort, wo Besonderes hervorgehoben werden soll: Zum Beispiel könnte eine Bühne einen samtroten Vorhang erhalten oder ein Sessel einen kräftig grünen Bezug.
„Wir brauchen einen Raum, in dem die Kinder zur Ruhe kommen können!“, hören wir oft. Wir meinen, dass jeder Raum eine solche Wohlfühlqualität besitzen und Ruhepausen ermöglichen sollte. Kinder, die sich eine kleine Pause gönnen wollen, möchten dafür meist nicht extra einen anderen Raum aufsuchen, sondern sich nur kurz aus der Aktion zurückziehen, um dann einige Zeit später wieder in das Geschehen einzusteigen. Für die Ruhepausen sind Orte ideal, die ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln, Nischen und Nester in den Dimensionen der Kinder – geeignet als Beobachtungsposten und Versteck. Dafür lassen sich zum Beispiel „Höhlen“ in Schränken vorsehen. Solche Rückzugsmöglichkeiten entstressen nicht nur die Kinder.
Ergonomisches Arbeiten ermöglichen
Es zeigt sich: Gute Räume für Kinder, sind gute Räume für das Fachpersonal. Doch für die Erwachsenen gibt es weitere Faktoren: Wer bei der Einrichtung einer Kita die Bedürfnisse der Fachkräfte mitdenkt, minimiert Situationen, in denen sie sich bücken oder heben müssen. Versierte Planer:innen konstruieren Wickelbereiche so, dass Kinder selbsttätig hochklettern können, und sehen im Garderobenbereich erhöhte Plätze vor, auf die sich die Kinder stellen, um sich beim Anziehen assistieren zu lassen. Auch Spielpodest-Landschaften lassen sich so gestalten, dass sie für Erwachsenen bequeme Plätze anbieten. Sie erlauben es Fachkräften zum Beispiel, sich an den Rand zu setzen und sich den dort spielenden Kindern zuzuwenden.
Fazit: Wertschätzung ausdrücken
Büro, Besprechungs- und Pausenraum: In vielen Kitas haben sich die Planer:innen für eine All-in-one-Lösung entschieden. Wir raten davon ab. Nicht nur Kinder benötigen Rückzugsorte, an denen sie nicht gestört werden. Auch die Fachkräfte brauchen Pausen, in denen sie entspannen können. Das gelingt nur, wenn es dafür einen gemütlichen Raum gibt, der idealerweise auch die Möglichkeit bietet, sich hinzulegen. Träger drücken damit ihre Wertschätzung für die Fachkräfte und ihre Leistung aus. Alle genannten Faktoren tragen dazu bei, die Kita für Kinder und Erwachsene zu einem Ort konzentrierten Arbeitens in einer angenehmen Wohlfühlatmosphäre zu machen.
Die Stadtzwerge in Heilbronn: In neue Räume hineinwachsen
Maren Buchholzke ist Leiterin und Inhaberin der Stadtzwerge in Heilbronn. Vier Einrichtungen betreibt der Träger inzwischen. Das erste Haus eröffnete die Kindheitspädagogin, die sich die Geschäftsführung mit ihrem Mann und ihrem Schwager teilt, 2014. Die pädagogische Konzeption für die Häuser stammt aus ihrer Feder. „Die fußt auf dem Konzept der professionellen Responsivität von Professorin Dorothee Gutknecht. Ich lernte diese Pädagogik in meiner Zeit an der Evangelischen Hochschule in Freiburg kennen und entwickelte sie gemeinsam mit der Professorin weiter. Inzwischen adaptiere ich das auf die Krippenpädagogik zugeschnittene Konzept auf die Arbeit mit über Dreijährigen“, sagt sie. „Auch in der Zusammenarbeit mit den Eltern und untereinander im Team sind die pädagogischen Leitlinien unseres Konzepts bestimmend.“ Es gehe darum, mit dem Gegenüber in einen echten Austausch zu kommen und alltägliche Situationen zu Bildungsmomenten zu machen. „Dafür ist viel Wissen und Können nötig“, berichtet die Pädagogin, die neues Personal entsprechend intensiv schult.
Überwältigend schön und kraftvoll
„Als klar war, dass wir neue Einrichtungen eröffnen und uns als Träger professionalisieren, wusste ich: Die Raumplanung und -gestaltung machen wir nicht allein. Dafür benötigen wir Profis“, sagt Maren Buchholzke. Durch Zufall kam sie zu Kameleon und entwickelte die Grundrisse und Raumgestaltungen zusammen mit Sarah Hengstebeck, Fachberaterin und Planerin bei Kameleon. „Das war ein intensiver Prozess, in dessen Verlauf wir immer neue Ideen produziert, hinterfragt und weiterentwickelt haben“, erinnert sie sich. Das Ergebnis überzeugt: „Die Räume sind überwältigend schön und besitzen eine besondere Kraft“, sagt Maren Buchholzke.
Räume unterstützen das Konzept
Die Stadtzwerge arbeiten in Gruppen, die eng kooperieren. „Wir bilden aber auch immer wieder Kleingruppen aus Kindern, die das gleiche Interesse verfolgen oder ein ähnliches Alter haben. Damit sich solche Gruppen gut zurückziehen können, gibt es abgetrennte Nischen bzw. separate Funktionsräume.
„In unserer größten Kita haben wir das Glück, zwei zusätzliche Räume flexibel nutzen zu können“, sagt die Geschäftsführerin. „Wenn viele junge Elementarkinder in der Einrichtung sind, dienen sie vor allem zum Schlafen. Doch mit zunehmendem Alter sinkt der Schlafbedarf. Dann nutzen wir die Flächen vermehrt projektbezogen. Aktuell ist einer der Räume ein Schlaf-, der andere ein Essensraum.“
Gestaltung wirft Fragen auf
Da die beiden frisch eingerichteten Häuser erst vor einigen Monaten mit neuen Teams eröffneten, gibt es eine Herausforderung, mit der die Inhaberin nicht gerechnet hatte: Die Räume sind auf eine Pädagogik zugeschnitten, die sich die meisten Fachkräfte noch aneignen müssen. Daher wirft auch die ungewohnte Raumgestaltung Fragen auf.
„In fast jedem Raum gibt es bei uns Möglichkeiten für die Kinder zu klettern und sich alleine oder mit anderen auf Hochebenen, in ‚Baumhäuser‘ oder einen ‚Ausguck‘ zurückzuziehen. Das gibt ihnen eigene Spielräume“, erzählt Maren Buchholzke. „Viele Fachkräfte befürchten jedoch, dass das Klettern gefährlich sein könnte. Außerdem denken sie, dass Kinder vielleicht Gegenstände nach oben mitnehmen und herunterwerfen. Die großen Fragen sind: Wie kann der Raum mich unterstützen? Und welche Regeln brauchen wir, damit das gelingt?“
„Es ist ein Prozess“
Die Leiterin beschließt, schnell zu handeln, denn die Unsicherheit der pädagogischen Fachkräfte in diesem Punkt kann sich auf die Kinder übertragen, die dann mit störendem Verhalten reagieren. Nun hat sie die Fachleute von Kameleon eingeladen, um in einem gemeinsamen Seminar das Zusammenspiel zwischen Pädagogik und Raumgestaltung noch einmal herauszuarbeiten. „Wir stellen fest: Räume optimal auf die eigene Pädagogik abzustimmen ist ein Prozess“, sagt Maren Buchholzke. „Aus dem pädagogischen Alltag heraus ergeben sich immer wieder neue Raumgestaltungsfragen – vor allen, wenn die Sensibilität für das Thema, wie bei uns, geschärft ist. Unsere Räume sollen uns schließlich bestmöglich entlasten, so dass wir den Fokus noch stärker auf unseren Bildungsauftrag legen können,“ sagt sie.
Bedürfnisse der Beschäftigten
Die Stadtzwerge richteten das Raumkonzept nicht allein an den Bedürfnissen der Kinder aus. „Das Ziel, unseren Beschäftigten optimale Arbeitsbedingungen zu bieten, haben wir in unserer Konzeption verankert“, sagt die Inhaberin. In Bezug auf die Räume heißt das: Es gibt eine ergonomische Möblierung, viele sorgfältig geplante Details für stressfreieres Arbeiten sowie große Personalräume, die die Leiterin gerade gemütlich einrichtet. „Wir merken, dass uns unsere Mitarbeiter:innen treu bleiben. Neben den tollen Räumen schätzen sie vor allem den guten Personalschlüssel und die Tatsache, dass unsere pädagogischen Ideale nicht nur auf dem Papier stehen, sondern wir sie tagtäglich umsetzen.“