OLG Stuttgart: Erfolgloses Kapitalanleger-Musterverfahren gegen die Porsche Automobil Holding SE
2. Wenn eine Person, die sowohl Vorstandsmitglied einer Holdinggesellschaft als auch einer Beteiligungsgesellschaft ist, aus ihrer Tätigkeit für die Beteiligungsgesellschaft Wissen erlangt hat, so kann eine Haftung der Holdinggesellschaft gemäß § 37b Abs. 1 WpHG a.F. grundsätzlich nicht auf dieses Wissen gestützt werden, wenn es im Verhältnis zur Beteiligungsgesellschaft der Verschwiegenheitspflicht unterliegt.
Sachverhalt: Kapitalanleger-Musterverfahren zu Fragen einer Haftung der Porsche Automobil Holding SE wegen unterlassener Ad-hoc-Mitteilungen im VW-Dieselskandal
Die Kläger haben beim LG Stuttgart eine Vielzahl von Schadensersatzklagen gegen die PSE erhoben. Sie sind der Ansicht, die Porsche Automobil Holding SE (PSE) habe mehrfach ihre Verpflichtung zur Veröffentlichung von Ad-hoc-Mitteilungen über Insiderinformationen verletzt, die Vorgänge bei der Volkswagen AG im Zusammenhang mit dem sog. Diesel-Skandal, d.h. dem Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Fahrzeuge des VW-Konzerns, und dessen Aufdeckung durch US-Institutionen und -Behörden in den Jahren 2014 und 2015 betreffen.
Die Kläger sehen ihren Schaden u.a. darin, dass sie im fraglichen Zeitraum Aktien der PSE mangels einer früheren Ad-hoc-Mitteilung zu teuer erworben hätten, weil der Kurs anderenfalls nicht erst nach der am 22.09.2015 veröffentlichten Ad-hoc-Meldung der VW AG eingebrochen wäre.
Das LG Stuttgart hatte dem OLG in seinem Vorlagebeschluss sogenannte Feststellungsziele zur Klärung zweier Fragenbereiche zur Kapitalmarkthaftung der PSE vorgelegt.
Es ging zunächst vor allem um die umstrittene Frage, ob die PSE, die damals wie heute über 50 % der Stammaktien der Volkswagen AG hält, neben der VW AG überhaupt eine Verpflichtung zur Veröffentlichung von Ad-hoc-Mitteilungen über Vorgänge treffen konnte, die sich im Bereich der operativen Geschäftstätigkeit der VW AG abgespielt hatten und ggf. als Insiderinformationen gewertet werden müssen.
Im zweiten Fragenkomplex ging es darum, ob es für die Veröffentlichungspflicht einer Aktiengesellschaft allgemein darauf ankommt, dass die Vorstandsmitglieder von den Insiderinformationen wissen oder ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen der Aktiengesellschaft das Wissen anderer Personen zugerechnet werden kann.
Zu klären war, ob etwaige Kenntnisse des Vorstands der VW AG oder auch anderer VW-Mitarbeiter über die Vorgänge um die Abschalteinrichtung der PSE zugerechnet werden können. Diese Frage stellte sich vor allem deshalb, weil einige Vorstandsmitglieder der VW AG seinerzeit zugleich Vorstandsmitglieder der PSE ("Doppelvorstandsmitglieder") waren.
Begründung: Ad-hoc-Veröffentlichungspflicht der Musterbeklagten als Holdinggesellschaft
Mit der vorliegenden Entscheidung vom 29.03.2023 - 20 Kap 2/17 - hat das OLG Stuttgart im Kapitalanleger-Musterverfahren gegen die Porsche Automobil Holding SE ("PSE") einen Musterentscheid verkündet und zur Kapitalmarkthaftung einer Holdinggesellschaft wegen unterlassener Ad-hoc-Mitteilungen über möglicherweise kursrelevante Umstände aus dem operativen Geschäftsbereich einer Beteiligungsgesellschaft Stellung genommen.
Das OLG hat entschieden, dass eine reine Holdinggesellschaft wie die PSE auch dann zur Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung verpflichtet sein kann, wenn es um solche Ereignisse aus dem operativen Geschäftsbereich einer Gesellschaft wie der VW AG geht, an der sie sich nur beteiligt hat.
Das gilt jedenfalls dann, wenn wie hier die VW AG selbst die Information nicht veröffentlicht hat. Das OLG begründet dies damit, dass die hohe Beteiligung an der VW AG das wesentliche Investment der PSE darstellt und deshalb Kurseinbrüche der VW-Aktie zu einem erheblichen Verlust des Unternehmenswerts der PSE führen können.
Eine Holdinggesellschaft kann nämlich von Vorgängen aus der Sphäre einer Beteiligungsgesellschaft im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 1 WpHG a.F. auch dann unmittelbar betroffen sein, wenn diese Vorgänge ausschließlich die Geschäftstätigkeit der Beteiligungsgesellschaft betreffen. Die Frage, ob die Holdinggesellschaft von derartigen Vorgängen unmittelbar betroffen ist, ist anhand einer wertenden Betrachtung der Umstände des konkreten Einzelfalls zu beantworten. In diese wertende Betrachtung haben insbesondere Gesichtspunkte wie die Art der Unternehmensverbindung und die Bedeutung des jeweiligen Ereignisses für die Holding einzufließen.
Das OLG hat außerdem klargestellt, dass ein kursrelevanter Umstand und die unmittelbare Betroffenheit eines Emittenten allein noch keine Pflicht zur Veröffentlichung begründen. Vielmehr müssen die Mitglieder des dafür zuständigen Vorstands entweder diesen Umstand kennen oder ihr Unternehmen pflichtwidrig nicht so organisiert haben, dass sie über ihn informiert werden. Die Publizitätspflicht gemäß § 15 WpHG a.F. setzt nach Worten des OLG voraus, dass der Vorstand des Emittenten entweder Kenntnis von einer Insiderinformation hat oder dass ihm diese infolge der Verletzung von Wissensorganisationspflichten nicht bekannt ist.
Aus Sicht des OLG reicht es hier für eine Veröffentlichungspflicht der PSE nicht aus, wenn ihre Doppelvorstandsmitglieder von den Vorgängen um den Dieselskandal und seine Aufdeckung nur deshalb wussten, weil sie in ihrer Funktion als Vorstände der VW AG darüber informiert waren. Denn in diesem Fall waren sie jeweils gegenüber der VW AG unter Strafdrohung verpflichtet, über diese Umstände die Verschwiegenheit zu wahren, die das Aktiengesetz einem Vorstandsmitglied auferlegt.
Hat eine Person, die sowohl Vorstandsmitglied einer Holdinggesellschaft als auch einer Beteiligungsgesellschaft ist, aus ihrer Tätigkeit für die Beteiligungsgesellschaft Wissen erlangt, so kann eine Haftung der Holdinggesellschaft gemäß § 37b Abs. 1 WpHG a.F. nach Ansicht des OLG grundsätzlich nicht auf dieses Wissen gestützt werden, wenn es im Verhältnis zur Beteiligungsgesellschaft der Verschwiegenheitspflicht unterliegt.
Das OLG erläutert, dass im konkreten Fall die fraglichen Doppelvorstandsmitglieder diese Informationen daher nur dann an die PSE weitergeben dürfen, d.h. dem dortigen Vorstand unterbreiten dürfen, wenn zuvor der gesamte Vorstand der VW AG beschlossen hätte, sie im Interesse der VW AG von ihrer Verschwiegenheitspflicht zu entbinden - dann hätte er zugleich aber darüber entscheiden müssen, ob die VW AG selbst eine Ad-hoc-Mitteilung veröffentlicht. Eine solche Beschlussfassung habe es bei der VW AG aber nicht gegeben.
Der PSE kann hier auch nicht vorgeworfen werden, einen Informationsfluss von der VW AG nicht durch geeignete Maßnahmen gesichert zu haben, da die Doppelvorstandsmitglieder ohne einen solchen Vorstandsbeschluss der VW AG etwaige Informationen über insiderrelevante Umstände nicht weitergeben durften.
Praktische Bedeutung des Beschlusses vom 29.03.2023 - 20 Kap 2/17
Das OLG Stuttgart hat in dieser Entscheidung zu umstrittenen Fragen der Haftung für Kapitalmarktinformationen Stellung genommen, die in der rechtswissenschaftlichen Literatur kontrovers diskutiert werden und in der Rechtsprechung nicht abschließend geklärt sind.
Wenn Anleger wie hier im Fall einen Emittenten gemäß 37b Abs. 1 WpHG a.F. wegen der unterlassenen Veröffentlichung von Insiderinformationen in Anspruch nehmen, müssen die Anleger nach den Worten des OLG beweisen, dass der Emittent Kenntnis von den fraglichen Insiderinformationen hatte bzw. dass seine Nichtkenntnis auf der Verletzung von Wissensorganisationspflichten beruhte.
Das OLG hat hier außerdem deutlich gemacht, dass eine Zurechnung von Wissen aus dem Konzern der VW AG zulasten von PSE nicht möglich war. Daher musste aus Sicht des OLG nicht entschieden werden, ob die Umstände um die Aufdeckung der illegalen Abschalteinrichtung durch die US-Behörden in den Jahren 2014 und 2015 überhaupt Insiderinformationen für die PSE darstellten.
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