Einflussfaktoren auf den Zweitspracherwerb
In der Zweitspracherwerbsforschung gibt es keine Theorie, die den L2-Erwerbsprozess in seiner Ganzheit zu erklären vermag. Der Zweitspracherwerb ist kein linearer Prozess, sondern mehrdimensional und flexibel. Welchen erheblichen Einfluss die Erstsprache auf den Zweitspracherwerb hat, wird durch die Interlanguagehypothese (Selinker 1972) und die Interdependenzhypothese (Cummins 1979) verdeutlicht. Beim L2-Erwerb können die Lernenden auf Vorwissen über sprachliche Strukturen aus dem L1- Erwerb oder einer erworbenen Fremdsprache zurückgreifen. Die Grundannahme bei Selinkers Interlanguagehypothese ist, dass die Lernenden beim Zweitspracherwerb zunächst ein individuelles Sprachsystem entwickeln. Diese sogenannte Interimssprache oder auch Lernersprache beinhaltet sowohl Eigenschaften der Ausgangssprache (L1) als auch der Zielsprache (L2) sowie komplett von L1 und L2 losgelöste Merkmale. Der Übertrag von Wissen des L1-Erwebs auf den L2-Erwerb wird auch als Transfer bezeichnet, der sich folgendermaßen aufgliedern lässt:
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Interferenz: Transfer führt zu einem negativen bzw. „falschen“ Ergebnis
(Beispiel: Anstelle von „Ich bin zwölf Jahre alt.“ wird aus dem Französischen „Ich habe zwölf Jahre.“ übertragen.)
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code-mixing: Wortschatz, welcher nicht in der Zielsprache verfügbar ist, wird aus einer anderen Sprache übernommen
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code-switching: bewusste Wahl zwischen beiden Sprachen, die von der Situation, dem Gesprächspartner und dem Thema abhängig ist. Die sprechende Person ist in der Lage die Sprache zu trennen, bedient sich hier des Vorteils den „Code“ wechseln zu können
Die Sprachlernenden nähern sich also durch eine konstante Überarbeitung ihrer Annahmen, Erkenntnisse und daraus abgeleiteten Regeln an die Zielsprache an. Gerade die verschiedenen Stufen des negativen Transfers sind für eine mögliche Sprachstandserhebung essentiell, denn die Fehlbildungen erlauben die nötigen Rückschlüsse auf den Stand der Lernersprache. Besonders, wenn die Sprachbeherrschung für die Lernenden selbst auf einem akzeptablen Niveau angekommen ist und die „Motivation“ sinkt die nächste Entwicklungsstufe zu erreichen, besteht die Gefahr der Stagnation der Sprache, auch Fossilierung genannt. Werden diese fossilierten Strukturen der Lernersprache nicht korrigiert, kann dies bis zu einem Zurückfallen in ein früheres Entwicklungsstadium der Interimssprache führen (backsliding).
Abb.1: Merkmale der zwei Dimensionen der Sprachbeherrschung nach Cummins (eigene Darstellung)
Aufbauend auf seiner Schwellenniveauhypothese formulierte Cummins die Interdependenzhypothese (1979). Die Grundannahme besteht darin, dass die Kompetenz, die in der L2 erreicht werden kann, von der Niveaustufe der Erstsprache (L1) beim Beginn des Zweitspracherwerbs (L2), abhängig ist. Cummins Annahmen basieren auf der Existenz von zwei Dimensionen der Sprachbeherrschung. Die erste Dimension der „basic interpersonal communicative skills“ (BICS), bezeichnet die basalen Fähigkeiten der mündlichen Kommunikation, die besonders für die Bewältigung von Alltagssituationen
ausschlaggebend ist (Abb.1). Die „cognitive academic language proficiency“ (CALP) bezeichnet die zweite Dimension und stellt die kognitiv bzw. bildungssprachlich geprägten Fähigkeiten dar, die durch Schriftlichkeit charakterisiert sind (Abb.1). Wurden CALP-Kompetenzen in der Ausgangssprache (L1) erlangt, können diese in die Zweitsprache (L2) transferiert werden.
Der Prozess des Zweispracherwerbs erstreckt sich, selbst unter idealen Voraussetzungen über mehrere Jahre und ist neben der Erstsprache von verschiedenen „Lernervariablen“ abhängig (nach Kniffka & Siebert-Ott). Diese individuellen Unterschiede im Lernerfolg der Zweitsprache können in drei Hauptgruppen gegliedert werden (Kniffka & Siebert-Ott, 2009, S.59):
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kognitive Variablen (Sprachbegabung, Intelligenz, Sprachstile, Sprachlernerfahrung)
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affektive und attitudinale Faktoren (Einstellungen zu L2 und deren Zielkultur, Motivation, Ängste, Persönlichkeitsattribute)
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soziale Variablen (soziokulturelle Erfahrungen)
Als weitere Faktoren können Alter und Geschlecht der Lernenden ebenfalls hinzugezählt werden. Schwierigkeiten ergeben sich dadurch, dass viele Lernervariablen nicht beobachtbar sind, weshalb häufig versucht wird, sich auf operationalisierbare Faktoren wie das Alter zu konzentrieren, obwohl auch hier große Unterschiede in der Entwicklung auftreten.
Bedeutung für den Unterricht
Wie Cummins‘ Hypothese zeigt, hat die Interdependenz von L1 und L2 Einfluss auf den Bildungsweg der Zweitsprachlernenden. Hier spielt insbesondere die Entwicklung der CALP eine tragende Rolle, die eine maßgebliche Bedeutung für den schulischen und später auch beruflichen Erfolg hat, da sie eine gelungene Bewältigung von und den kognitiven Umgang mit Bildungssprache darstellt.
Aufgabe aller Lehrkräfte ist es Schülerinnen und Schüler bestmöglich auf diesem Weg zu begleiten. Um diesem Auftrag gerecht zu werden ist es notwendig, dass Lehrende ihre professionellen Kompetenzen reflektieren und weiterentwickeln. Die Bandbreite reicht dabei von Metawissen über Systematik und Dynamik des Spracherwerbs, hin zu Kenntnissen über Mehrsprachigkeit und kontrastive Linguistik sowie Kenntnisse in der Konzipierung von sprachsensiblen Unterrichtseinheiten. Auch der Paradigmenwechsel hin zu einer positiven Fehlerkultur und somit die Progression der Interimssprache als wichtige Stufe im Zweitspracherwerb anzuerkennen, stellt einen wichtigen Bestandteil der unterrichtlichen Arbeit dar. Die Lehrkräfte benötigen aber auch starke Partner an Ihrer Seite, die sie in der Komplexität der Diagnose unterstützen und sie bei der Entwicklung von zielführenden Fördermaßnahmen beraten. Besonders in der Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Fluchthintergrund stellt eine erste Analyse der individuellen Bedürfnisse eine gute Arbeitsgrundlage für die Lehrkraft dar. Auch wenn nicht jedes geflüchtete Kind traumatisiert ist, bedarf es einer Sensibilisierung für Sonderfälle im Prozess des Zweitsprachenerwerbs (z.B. „silent period“, rezeptive Phase des Sprachenerwerbs, die nicht als Verweigerung des Lernenden gedeutet werden darf). Ziel sollte sein, einen lernerorientierten Unterricht zu ermöglichen der gleichzeitig einen Teil der schulischen Willkommenskultur repräsentiert.
Fazit
Nicht nur oben genannte Punkte, sondern auch das Nutzen und Vernetzen der jeweiligen Ausgangssprachen der Lernenden und somit das perspektivische Heranführen an Bildungssprache tragen im Kontext Schule dazu bei, Integration durch Bildungserfolg zu fördern und somit die Teilhabe an unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Das stellt alle an Schule beteiligten vor große Herausforderungen und birgt gleichzeitig enormes Potential.