Deutsch als Zweitsprache
Recht & Verwaltung19 Mai, 2022

Spracherwerb: Deutsch als Zweitsprache

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Seit Beginn des Ukrainekriegs ist wieder eine große Gruppe Menschen auf der Flucht, darunter abertausende schulpflichtige Kinder und Jugendliche. Diejenigen, die in Deutschland ein neues Zuhause finden, werden hier langfristig in die Schule gehen. So wird unser Schulsystem erneut auf die Probe gestellt, um Voraussetzungen zu schaffen, ankommende Kinder und Jugendlichen beim Erwerb der deutschen Sprache zu unterstützen.

Sabrina Weiss

Einleitung

In allen Schularten steigt die Anzahl Kinder und Jugendlicher mit nichtdeutscher Muttersprache. Gründe des Zuzugs von Familien mit schulpflichtigen Kindern aus dem Ausland sind mannigfaltig. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Zuletzt im Jahr 2015, als eine große Gruppe an syrischen Familien auf Grund des dortigen Kriegs flüchtete, stand unser Bildungssystem vor einer Aufgabe, die es zu lösen galt. Seit Beginn des Ukrainekriegs ist wieder eine große Gruppe Menschen auf der Flucht, darunter abertausende schulpflichtige Kinder und Jugendliche. Diejenigen, die in Deutschland ein neues Zuhause finden, werden hier langfristig in die Schule gehen. So wird unser Schulsystem erneut auf die Probe gestellt, um Voraussetzungen zu schaffen, ankommende Kinder und Jugendlichen beim Erwerb der deutschen Sprache zu unterstützen, um nicht nur den Alltag bestreiten, sondern auch den schulischen Weg erfolgreich meistern zu können.

Unterscheidung Erst-, Zweit- und Fremdsprachenerwerb

In der sprachwissenschaftlichen Literatur begegnet man dem Begriff des L1-Erwerb (abgeleitet aus dem Englischen für „language-one“), der den Erstspracherwerb beschreibt und der in der Phase von der Geburt an bis ins frühe Kindesalter erfolgt. Dieser findet ungesteuert, hauptsächlich im familiären Umfeld statt und bezeichnet die zuerst erlernte bzw. im Alltag dominante Sprache. Daher werden die Begriffe Erst- und Muttersprache oft synonym verwendet.

Die Zweitsprache (L2) dagegen wird sukzessiv zu einem späteren Zeitpunkt, meist ab dem 3./4. Lebensjahr im Kontext des Kindergartens oder der Vorschule, erworben (früher Zweitspracherwerb). Besonders beim späten kindlichen (ca. ab 6 Jahren bis zum Beginn der Pubertät) bzw. erwachsenen Zweitsprachenerwerb (ab der Pubertät) erfolgt die Aneignung der Sprache in der alltäglichen Kommunikation, manchmal auch begleitet durch gezielten Sprachunterricht. Die Sprachlernenden leben beim Erwerb im Land der Zielsprache und befinden sich dort im sogenannten „Sprachbad“. Sie sind also von der Sprache im Alltag umgeben (z.B. Deutsch lernen in Deutschland).

Findet der Spracherwerb im Gegensatz dazu gesteuert und isoliert, also ohne präsente Umgebungssprache, in Episoden statt, handelt es ich um Fremdsprachenerwerb (z.B. Italienisch lernen in Deutschland). Gerade in der frühen Phase des Zweitspracherwerbs im schulischen Kontext kann es zu Überschneidungen bzw. Ähnlichkeiten zum Fremdsprachenunterricht kommen. Die Abgrenzung wird jedoch mit fortschreitendem Erwerbsprozesses durch die stetig ansteigenden außerschulischen Verwendungsmöglichkeiten bzw. der Alltagsrelevanz der Zielsprache deutlicher.

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Einflussfaktoren auf den Zweitspracherwerb

In der Zweitspracherwerbsforschung gibt es keine Theorie, die den L2-Erwerbsprozess in seiner Ganzheit zu erklären vermag. Der Zweitspracherwerb ist kein linearer Prozess, sondern mehrdimensional und flexibel. Welchen erheblichen Einfluss die Erstsprache auf den Zweitspracherwerb hat, wird durch die Interlanguagehypothese (Selinker 1972) und die Interdependenzhypothese (Cummins 1979) verdeutlicht. Beim L2-Erwerb können die Lernenden auf Vorwissen über sprachliche Strukturen aus dem L1- Erwerb oder einer erworbenen Fremdsprache zurückgreifen. Die Grundannahme bei Selinkers Interlanguagehypothese ist, dass die Lernenden beim Zweitspracherwerb zunächst ein individuelles Sprachsystem entwickeln. Diese sogenannte Interimssprache oder auch Lernersprache beinhaltet sowohl Eigenschaften der Ausgangssprache (L1) als auch der Zielsprache (L2) sowie komplett von L1 und L2 losgelöste Merkmale. Der Übertrag von Wissen des L1-Erwebs auf den L2-Erwerb wird auch als Transfer bezeichnet, der sich folgendermaßen aufgliedern lässt:

  • Interferenz: Transfer führt zu einem negativen bzw. „falschen“ Ergebnis
    (Beispiel: Anstelle von „Ich bin zwölf Jahre alt.“ wird aus dem Französischen „Ich habe zwölf Jahre.“ übertragen.)
  • code-mixing: Wortschatz, welcher nicht in der Zielsprache verfügbar ist, wird aus einer anderen Sprache übernommen
  • code-switching: bewusste Wahl zwischen beiden Sprachen, die von der Situation, dem Gesprächspartner und dem Thema abhängig ist. Die sprechende Person ist in der Lage die Sprache zu trennen, bedient sich hier des Vorteils den „Code“ wechseln zu können

Die Sprachlernenden nähern sich also durch eine konstante Überarbeitung ihrer Annahmen, Erkenntnisse und daraus abgeleiteten Regeln an die Zielsprache an. Gerade die verschiedenen Stufen des negativen Transfers sind für eine mögliche Sprachstandserhebung essentiell, denn die Fehlbildungen erlauben die nötigen Rückschlüsse auf den Stand der Lernersprache. Besonders, wenn die Sprachbeherrschung für die Lernenden selbst auf einem akzeptablen Niveau angekommen ist und die „Motivation“ sinkt die nächste Entwicklungsstufe zu erreichen, besteht die Gefahr der Stagnation der Sprache, auch Fossilierung genannt. Werden diese fossilierten Strukturen der Lernersprache nicht korrigiert, kann dies bis zu einem Zurückfallen in ein früheres Entwicklungsstadium der Interimssprache führen (backsliding).

Deutsch-als-zweitsprache Abbildung 1

Abb.1: Merkmale der zwei Dimensionen der Sprachbeherrschung nach Cummins (eigene Darstellung)

Aufbauend auf seiner Schwellenniveauhypothese formulierte Cummins die Interdependenzhypothese (1979). Die Grundannahme besteht darin, dass die Kompetenz, die in der L2 erreicht werden kann, von der Niveaustufe der Erstsprache (L1) beim Beginn des Zweitspracherwerbs (L2), abhängig ist. Cummins Annahmen basieren auf der Existenz von zwei Dimensionen der Sprachbeherrschung. Die erste Dimension der „basic interpersonal communicative skills“ (BICS), bezeichnet die basalen Fähigkeiten der mündlichen Kommunikation, die besonders für die Bewältigung von Alltagssituationen ausschlaggebend ist (Abb.1). Die „cognitive academic language proficiency“ (CALP) bezeichnet die zweite Dimension und stellt die kognitiv bzw. bildungssprachlich geprägten Fähigkeiten dar, die durch Schriftlichkeit charakterisiert sind (Abb.1). Wurden CALP-Kompetenzen in der Ausgangssprache (L1) erlangt, können diese in die Zweitsprache (L2) transferiert werden.

Der Prozess des Zweispracherwerbs erstreckt sich, selbst unter idealen Voraussetzungen über mehrere Jahre und ist neben der Erstsprache von verschiedenen „Lernervariablen“ abhängig (nach Kniffka & Siebert-Ott). Diese individuellen Unterschiede im Lernerfolg der Zweitsprache können in drei Hauptgruppen gegliedert werden (Kniffka & Siebert-Ott, 2009, S.59):

  • kognitive Variablen (Sprachbegabung, Intelligenz, Sprachstile, Sprachlernerfahrung)
  • affektive und attitudinale Faktoren (Einstellungen zu L2 und deren Zielkultur, Motivation, Ängste, Persönlichkeitsattribute)
  • soziale Variablen (soziokulturelle Erfahrungen)

Als weitere Faktoren können Alter und Geschlecht der Lernenden ebenfalls hinzugezählt werden. Schwierigkeiten ergeben sich dadurch, dass viele Lernervariablen nicht beobachtbar sind, weshalb häufig versucht wird, sich auf operationalisierbare Faktoren wie das Alter zu konzentrieren, obwohl auch hier große Unterschiede in der Entwicklung auftreten.

Bedeutung für den Unterricht

Wie Cummins‘ Hypothese zeigt, hat die Interdependenz von L1 und L2 Einfluss auf den Bildungsweg der Zweitsprachlernenden. Hier spielt insbesondere die Entwicklung der CALP eine tragende Rolle, die eine maßgebliche Bedeutung für den schulischen und später auch beruflichen Erfolg hat, da sie eine gelungene Bewältigung von und den kognitiven Umgang mit Bildungssprache darstellt.

Aufgabe aller Lehrkräfte ist es Schülerinnen und Schüler bestmöglich auf diesem Weg zu begleiten. Um diesem Auftrag gerecht zu werden ist es notwendig, dass Lehrende ihre professionellen Kompetenzen reflektieren und weiterentwickeln. Die Bandbreite reicht dabei von Metawissen über Systematik und Dynamik des Spracherwerbs, hin zu Kenntnissen über Mehrsprachigkeit und kontrastive Linguistik sowie Kenntnisse in der Konzipierung von sprachsensiblen Unterrichtseinheiten. Auch der Paradigmenwechsel hin zu einer positiven Fehlerkultur und somit die Progression der Interimssprache als wichtige Stufe im Zweitspracherwerb anzuerkennen, stellt einen wichtigen Bestandteil der unterrichtlichen Arbeit dar. Die Lehrkräfte benötigen aber auch starke Partner an Ihrer Seite, die sie in der Komplexität der Diagnose unterstützen und sie bei der Entwicklung von zielführenden Fördermaßnahmen beraten. Besonders in der Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Fluchthintergrund stellt eine erste Analyse der individuellen Bedürfnisse eine gute Arbeitsgrundlage für die Lehrkraft dar. Auch wenn nicht jedes geflüchtete Kind traumatisiert ist, bedarf es einer Sensibilisierung für Sonderfälle im Prozess des Zweitsprachenerwerbs (z.B. „silent period“, rezeptive Phase des Sprachenerwerbs, die nicht als Verweigerung des Lernenden gedeutet werden darf). Ziel sollte sein, einen lernerorientierten Unterricht zu ermöglichen der gleichzeitig einen Teil der schulischen Willkommenskultur repräsentiert.

Fazit

Nicht nur oben genannte Punkte, sondern auch das Nutzen und Vernetzen der jeweiligen Ausgangssprachen der Lernenden und somit das perspektivische Heranführen an Bildungssprache tragen im Kontext Schule dazu bei, Integration durch Bildungserfolg zu fördern und somit die Teilhabe an unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Das stellt alle an Schule beteiligten vor große Herausforderungen und birgt gleichzeitig enormes Potential.

Weiterführende Links:

Willkommenskultur – Zum Umgang mit Flüchtlingskindern und Flüchtlingseltern
https://www.isb.bayern.de/schulartspezifisches/materialien/willkommenskultur/

Rundbrief Sch.i.f.f. - Schüler/innen interkulturell flexibel fördern
https://www.isb.bayern.de/schulartspezifisches/materialien/schiff-rundbrief/

Divers kontrovers? – Ideen für den interkulturellen Schulalltag
https://www.isb.bayern.de/schulartspezifisches/materialien/divers-kontrovers/

Weiss_Sabrina
Autorin
Sabrina Weiss
Akademiereferentin in der Abteilung 1.4 Deutsch als Zweitsprache; Islamischer Unterricht; interkulturelles, interreligiöses und soziales Lernen der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung (ALP), Dillingen
Bildnachweis: ingo bartussek/stock.adobe.com
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