Kinderrechte
Recht & Verwaltung18 September, 2023

Achtung Kinderperspektiven! Qualität partizipativ entwickeln

Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann: Professorin für Allgemeine und Sozialpädagogik/Frühpädagogik, Freie Universität Bozen, Brixen

Es gehört zu den Grundrechten von Kindern, in allen sie betreffenden Angelegenheiten und in einer für sie verständlichen Art und Weise informiert zu werden, nicht nur gefragt, sondern auch gehört zu werden und sich an der Gestaltung und Weiterentwicklung ihrer Lebens- und Lernorte beteiligen zu können. Die Frage, ob dies auch schon für Kita-Kinder gilt, stellt sich nicht, denn im Artikel 12 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen (BMFSFJ 2014) wird mit dem „Respekt für die Sicht des Kindes“ (UNICEF 2007, 700) ein allgemeines Kinderrecht formuliert. Somit geht es ausschließlich darum, zu klären, wie Kinder in der Erforschung von Kita-Qualität und der Ausgestaltung von Qualitätsentwicklungsprozessen berücksichtigt werden können.

Wenn Kindern das Recht auf Gehör und Beteiligung zusteht, dann müssen Pädagog:innen sie nach ihren Erfahrungen und Erlebnissen fragen: Was ist den Kindern wichtig, was mögen sie und was mögen sie nicht, was wünschen sie sich anders? Was trägt zu ihrem Wohlbefinden bei, was bereitet ihnen Kummer, was macht sie glücklich? Was stärkt sie als Individuen und als Teil einer Gemeinschaft? Was eröffnet ihnen Raum für Prozesse der Selbst und Welterkundung? Was und wen loben die Kinder, und über was und wen beschweren sie sich? Welche Veränderungsvorschläge haben sie?

Das Recht der Kinder auf Gehör impliziert somit zum einen die Pflicht der Erwachsenen, ihnen aufmerksam zuzuhören, sich Mühe zu geben, ihre Themen und Anliegen zu verstehen, sie nicht gleich abzutun, wenn sie zunächst ‚sinnlos‘, unverständlich oder störend erscheinen. Zum anderen können die Rechte der Kinder nur gewährleistet werden, wenn die Erwachsenen sich Zeit nehmen, ihnen aufmerksam zuhören, mit ihnen diskutieren, Begründungen abwägen und Kompromisse aushandeln. Wenn es um die Kinderrechte geht, dann geht es auch um eine dialogisch-partizipative, respektvolle Kultur des Miteinanders von Kindern und Erwachsenen.

Kinder als Akteure der Qualitätsentwicklung in der Kindertageseinrichtung

Das zentrale Ziel des von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegebenen Projekts „Kinder als Akteure der Qualitätsentwicklung in Kitas“ und des daraus hervorgegangenen Kinderperspektivenansatzes ist ein Paradigmenwechsel: Es gilt, Kinder als kompetente Co-Akteure einer an Partizipation orientierten Qualitätsentwicklung von pädagogischen Institutionen und Angeboten anzuerkennen und einzubeziehen.

Die Kinderperspektivenstudien zeigen, dass Kinder ausgesprochen kompetente und auskunftsfreudige, engagierte Akteur:innen sind, wenn sie in die Erforschung und Entwicklung von Kita-Qualität einbezogen werden (Nentwig-Gesemann, Walther & Thedinga 2017; Nentwig-Gesemann, Walther, Bakels & Munk 2021). Kinder nehmen das Angebot, ihre Erfahrungen und Qualitätsvorstellungen sprachlich zum Ausdruck zu bringen, zu zeigen, zu malen und zu fotografieren, was zu ihrem Wohlbefinden beiträgt, sehr gerne in Anspruch (Nentwig-Gesemann & Fröhlich-Gildhoff 2022). Je vielfältiger das ihnen zur Verfügung gestellte methodische Repertoire ist, umso inklusiver kann mit Kindern geforscht und Qualität entwickelt werden (Nentwig-Gesemann et al. 2020b). In sehr kondensierter Form lassen sich die Ergebnisse der Kinderperspektivenstudien wie folgt zusammenfassen.

Kinder wünschen sich vor allem gute Freund:innen und in ihrem Sinne kindgerechte Orte zum Aktiv-Sein, Explorieren und Spielen: z.B. Orte für originelle, herausfordernde, auch ein wenig ‚riskante‘ Bewegungsaktivitäten; sich mit den Jahreszeiten wandelnde, weitläufige und zur Erkundung anregende naturnahe Räume; Räume, die sie gestalten, umräumen und ‚umleben‘ können, ‚geheime‘ Orte, die ihnen auch im Kontext der Institution Kindertageseinrichtung der Rückzug und unbeobachtetes Unter-Sich-Sein ermöglichen.

Sie schätzen freundliche, humorvolle, ihnen emotional positiv zugewandte und verlässliche Bezugspersonen, die ihnen interessante Weltzugänge, unterschiedlichste Lerngelegenheiten, alle Sinne anregende Umgebungen und viel Zeit zum Spielen zur Verfügung stellen.

Kinder wollen sich in der Kindertageseinrichtung als individuelle und besondere Persönlichkeiten wertgeschätzt fühlen und sichtbar sein und schätzen es zugleich sehr, an gemeinschaftlichen Ritualen teilzuhaben und sich in die soziale Gemeinschaft sicher eingebunden zu fühlen. Verantwortung für die Gestaltung des Lebensortes Kita zu übernehmen, den Ort zu ihrem Ort machen zu können, an dem sie sich gut auskennen und den sie nach ihren Vorstellungen mitgestalten können, erfüllt Kinder mit Stolz und Vertrauen in ihre Wirksamkeit. Kinder verlangen sehr intensiv nach Aufgaben und Herausforderungen, für die sie sich anstrengen, aber die sie zugleich auch erfolgreich bewältigen können, so dass sie sich als kompetent und selbstwirksam erleben können.

Wenn Kinder erfahren, dass ihr Recht auf Selbst- und Mitbestimmung nicht anerkannt wird, wenn sie nicht mitüberlegen und mitentscheiden können, wie die Kindertageseinrichtung ein guter Ort für sie ist, fühlen sie sich mit ihren Ideen, Vorschlägen und Ressourcen nicht be- und geachtet. Die Erfahrung, als Kind nicht gehört zu werden und ‚machtlos‘ zu sein, vermittelt Kindern den Eindruck, dass es nicht zuvorderst um sie und nicht um eine ‚Pädagogik vom Kind aus‘ geht.

Implikationen für die Qualitätsentwicklung

Im Folgenden werden einige Impulse formuliert, die Kita-Teams dazu anregen können, über Potenziale, Herausforderungen und Ziele von Qualitätsentwicklung nachzudenken und dabei die Kinderperspektiven (noch stärker und systematischer als bislang) einzubeziehen.

Anknüpfend an die in den Kinderperspektivenstudien herausgearbeiteten Qualitätsdimensionen aus Kindersicht (Nentwig-Gesemann et al. 2020a) könnten Fachkräfte in Teams die folgenden Fragen reflektieren und diskutieren: Fallen uns Beobachtungen oder Gespräche mit Kindern ein, bei denen wir einen Bezug zu einer oder mehreren der Qualitätsdimensionen, die Kindern besonders wichtig sind, herstellen können? Haben wir den Eindruck, dass eine Qualitätsdimension fehlt, die für Kinder auch eine zentrale Bedeutung hat? Welchen Stellenwert haben diese Qualitätsdimensionen bereits – oder noch nicht – in unserem Kita-Alltag? Welche Qualitätsdimensionen erscheinen uns für die pädagogische Profilbildung unserer Einrichtung ganz besonders wichtig? Wo wollen wir nah- und mittelfristig Schwerpunkte setzen?

Auf der Ebene der pädagogischen Alltagspraktiken, pädagogischen Konzepte und Orientierungen können die folgenden Fragen Anstöße für die Reflexion bieten: Fühlen wir uns durch die Qualitätsdimensionen aus Kinderperspektive an positive oder unangenehme Kontexte oder Situationen in unserer eigenen Kindheit erinnert? Spiegeln sich in den Kinderperspektiven die für uns wesentlichen Aspekte unserer pädagogischen Konzeption wider? Wie können wir unsere Konzeption so überarbeiten, dass die Kinderperspektiven dort deutlich(er) zum Ausdruck kommen? Welches fachlich-theoretische Wissen (z. B. über die kindliche Entwicklung oder über Kinderrechte) können wir hinzuziehen, um die (stärkere) Einbeziehung der Kinderperspektiven im Alltag zu begründen? Fühlen wir als pädagogische Fachkräfte uns mit unseren Erfahrungen, Einschätzungen, Vorschlägen und Wünschen (z.B. vom Träger) wahr- und ernstgenommen, wenn es um Qualität geht?

Da Qualität zum einen auf der Professionalität der Fachkräfte beruht, zum anderen aber auch sehr stark von den jeweiligen Rahmenbedingungen abhängt, sollten auch die folgenden Fragen, die sich auf die Systemebene (Träger, Rahmenbedingungen, gesellschaftliche Erwartungen an die Bildungseinrichtung Kita) beziehen, diskutiert werden: Was brauchen wir (z. B. an besseren Rahmenbedingungen), um einem, die Kinderperspektiven gleichwertig einbeziehenden, Qualitätsanspruch gerecht werden zu können? Welche Rolle sollte der Träger im Qualitätsentwicklungsprozess einnehmen; wie könnte er die Einbeziehung der Kinderperspektiven unterstützen? Inwiefern lassen sich die in den Bildungsprogrammen/-plänen formulierten Erwartungen und Anforderungen an die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung mit den Kinderrechten und Kinderperspektiven verbinden? Wie können wir die Eltern bzw. Familien mit dem Kinderperspektivenansatz vertraut machen? Wie können wir die Einbeziehung der Kinderperspektiven im Umfeld bzw. im Sozialraum der Kita unterstützen?

Und schließlich sind im Sinne einer interperspektivischen Entwicklung von Qualität folgende Fragen relevant: Wie könnten alle beteiligten Akteure (Träger, Fachkräfte, Eltern, Kinder u.a.) systematisch in den Qualitätsentwicklungsprozess einbezogen werden und miteinander ins Gespräch kommen? Wie beteiligen wir die Kinder an der Entscheidungsfindung und der konkreten Realisierung von Veränderungen in unserer Einrichtung? Welche partizipativen Methoden kennen wir bzw. wollen wir uns aneignen? Wie können wir unser Wissen über die Erfahrungen, Perspektiven und Relevanzen der Kinder den Eltern zugänglich machen; wie dokumentierten wir die Kinderperspektiven? Wie können wir über unsere eigenen fachlichen Perspektiven und die der Eltern miteinander ins Gespräch kommen? Wie können wir den pädagogischen Alltag in der Kindertageseinrichtung als Team (noch) besser auf die Erfahrungen, Perspektiven und Relevanzen der Kinder abstimmen? Wie gehen wir mit unterschiedlichen Qualitätsvorstellungen im Team um? Welche konkreten ersten Schritte planen wir, die von allen Beteiligten mitgetragen werden? Wer macht was bis wann? Wie strukturieren und dokumentieren wir unseren Qualitätsentwicklungsprozess, damit er für alle Akteure transparent ist und die verschiedenen Perspektiven miteinander im Diskurs bleiben?

Fazit

Der Kinderperspektivenansatz eröffnet mit seiner theoretischen und empirischen Fundierung sowie mit den anwendungsfreundlichen Arbeitsmaterialien (Nentwig-Gesemann et al. 2020a und 2020b) eine gute und (forschungs-) praktisch erprobte Grundlage, um sich mit partizipativen Methoden dem Nachvollziehen und besseren Verstehen der Erfahrungen und Perspektiven von Kindern anzunähern. Damit forciert und unterstützt er zum einen die Anbahnung und Stärkung einer forschenden Haltung von frühpädagogischen Fachkräften (Nentwig-Gesemann 2022). Zum anderen zeigt er Fachkräften praktikable Wege einer an Partizipation von Kindern orientierten Qualitätsentwicklung auf. Insgesamt kann der Kinderperspektivenansatz also grundlegend dazu beitragen, dass der Anspruch, die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen dialogisch, vielfaltssensibel, kinderrechtebasiert und partizipativ zu gestalten, alltagsintegriert realisiert werden kann.

Literatur

BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Übereinkommen über die Rechte des Kindes. VN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien, 2014.
Nentwig-Gesemann, Iris (2022): Vom forschenden Lernen zur forschenden Haltung. In: M. Obermaier, P. Isele & J. Höke (Hrsg.); Forschendes Lernen in Arbeitsfeldern der Kindheitspädagogik. Paderborn: Schöningh, S. 51-62.
Nentwig-Gesemann, I./Fröhlich-Gildhoff, K. (2022): Wohlbefinden und seelische Gesundheit. Konkretisierungen aus der Perspektive von vier- bis sechsjährigen Kita-Kindern. In: Frühe Bildung, 11 (3), S. 115-124.
Nentwig-Gesemann, I./Walther, B./Thedinga, M. (2017): Kita-Qualität aus Kindersicht, online unter: https://www.qualitaet-vor-ort.org/wp-content/uploads/2017/07/2017_07_27_QuaKi_Abschlussbericht.pdf
Nentwig-Gesemann, I./Walther, B./Bakels, E./Munk, L.-M. (2020a): Achtung Kinderperspektiven! Mit Kindern KiTa-Qualität entwickeln. Methodenschatz I: Qualitätsdimensionen.
Nentwig-Gesemann, I./Walther, B./Bakels, E./Munk, L.-M. (2020b): Achtung Kinderperspektiven! Mit Kindern KiTa-Qualität entwickeln. Methodenschatz II: Erhebung, Auswertung und Dokumentation.
Nentwig-Gesemann, I./Walther, B./Bakels, E./Munk, L.-M. (2021): Kinder als Akteure in Qualitätsentwicklung und Forschung. Eine rekonstruktive Studie zu KiTa-Qualität aus der Perspektive von Kindern.
UNICEF, Reporting Guidelines, 2007, online unter: https://www.unicef.org/media/reporting-guidelines

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