Können wir uns vorurteilsfrei verhalten
Herbert E. Förster, Diplom-Psychologe, Supervisor in freier Praxis, Lehrsupervisor am NIK e.V., Bremen
Ehrlicherweise: Nein. Wir brauchen Vorurteile (milder ausgedrückt: Vorannahmen), um die Komplexität der Welt aushalten zu können. Sie dürfen allerdings nicht verhärten. Deshalb sollten wir verschiedene Möglichkeiten nutzen, die mit Selbstreflexion und der systemischen Betrachtung einer Situation zu tun haben. So kann die Leitung einer Kita relativ vorurteilsfrei geschehen, wenn die Leitungskraft Prinzipien wie Partizipation, Transparenz sowie Pflege einer wertschätzenden Arbeitsbeziehung zu den Mitarbeitenden berücksichtigt.
Die Anregung zu diesem Artikel entstand durch einen Auftrag, den ich als Supervisor in freier Praxis erhielt. Eine Einrichtungsleitung engagierte mich zur Lösung eines Konflikts zwischen Mitarbeiterinnen eines Gruppenteams, ohne selbst an der Beratung teilnehmen zu wollen. Der Konflikt war schnell gelöst, da es sich lediglich um ein unglückliches Missverständnis zwischen zwei Mitarbeiterinnen handelte. Allerdings offenbarte eine Mitarbeiterin in diesem Zusammenhang, dass sie sich von der Einrichtungsleitung zutiefst ungerecht behandelt fühle und schob das einzig auf ihren Migrationshintergrund. Eindringlich bat sie mich und die beiden anwesenden Kolleginnen, unter keinen Umständen mit dem Leiter darüber zu sprechen. Ein weiterer Termin wurde vereinbart, um zu besprechen, wie nun mit der Situation umgegangen werden könne.
Zu einem weiteren Termin kam es nicht, da zwischenzeitlich Personalumbesetzungen in der Einrichtung stattgefunden hatten. Per E-Mail schlug ich der betroffenen Mitarbeiterin eine Einzelsupervision vor, was nicht aufgegriffen wurde. Der ursprüngliche Auftrag war für mich erfüllt und der Beratungsprozess somit abgeschlossen. Die Frage, ob hier Vorurteile das Leitungshandeln beeinflussten, beschäftigte mich noch eine Zeit. Mangels Auftrags konnte keine Klärung erfolgen.
Der blinde Fleck
Aufgrund des nur kurzen und selektiven Einblicks kann ich natürlich nicht wissen, ob tatsächlich eine Benachteiligung der Mitarbeiterin stattfand, allerdings erzählte sie, dass sie dieses Gefühl seit längerer Zeit beschäftigte. Es ist wahrscheinlich, dass sie es non-verbal oder in verschlüsselten Bemerkungen dem Team und der Leitung gegenüber auch zum Ausdruck brachte. Was kann hilfreich sein, Anzeichen von Unzufriedenheit bei Mitarbeiter*innen wahrzunehmen? Anders gefragt – und das zur Entlastung eines jeden Menschen –: wie ist es möglich, dass man nicht alle Anzeichen im Miteinander wahrnehmen kann?
Mit diesem Phänomen beschäftigt sich die Psychologie seit vielen Jahrzehnten und nennt es »blinder Fleck«. Selbst Neurobiologen bestätigten, dass es so etwas gibt, nämlich durch eine lichtunempfindliche Stelle im Bereich der Netzhaut des Auges, da dort der Sehnerv austritt und einen blinden Fleck im Sehfeld bewirkt (Maturana & Varela; 1987).
Somit ist – mit einem Augenzwinkern – erwiesen, dass der blinde Fleck rein menschlicher Natur ist. Was uns nicht davon abhalten soll, ihn möglichst unwirksam zu halten.
Das Johari-Fenster
Die zweidimensionale Matrix des Johari-Fensters (nach Luft; 1970) zeigt vier unterschiedliche Bewusstseinsquadranten, die zwischen den Bereichen Öffentlich, Blinder Fleck, Privat und Unbewusstes unterscheiden (siehe Abbildung 1).