Menschen, die sehr belastende Ereignisse erleben mussten, reagieren darauf sehr unterschiedlich. Eine kurzfristige normale Schutz-Reaktion des Organismus tritt kurz nach dem Ereignis auf und kann auch über eine gewisse Zeit anhalten. Dies äußert sich zum Beispiel durch Angst, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, verlangsamte Wahrnehmung der Umwelt, allgemeine Verwirrung und Ruhelosigkeit – um nur einige mögliche Symptome zu nennen.
Viele Betroffene sind in der Lage ihre Erfahrungen mithilfe von ausreichend Zeit, sozialer Unterstützung und den eigenen inneren Ressourcen und Fähigkeiten zu verarbeiten. Sie fassen neuen Mut und können sich auf die neuen Lebensumstände einlassen. Bei anderen Betroffenen sind die Symptome noch nach Monaten unverändert hoch. Sie haben womöglich eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt und brauchen professionelle Unterstützung. Wie können geflüchtete Kinder und Jugendliche durch Pädagogen und andere Helfer unterstützt werden, damit ihnen dies nach Möglichkeit erspart bleibt? Zahlreiche Publikationen sind hierzu seit dem Beginn des Ukraine-Krieges und der damit verbundenen Fluchtbewegung erschienen. Doch wie valide sind die ausgesprochenen Empfehlungen in diesen Beiträgen?
Fachleute empfehlen die Anwendung der sogenannten Hobfoll-Kriterien (Hobfoll et al, 2007). Hobfoll konnte zeigen, dass Ressourcenverluste, insbesondere solche, die zur Aufrechterhaltung des Individuums, der Familie oder des Lebenskontextes dienen, zu schwerwiegenden Stress-Reaktionen führen und schlussendlich die Bewältigung anstehender belastender Lebensanforderungen behindern. Somit kommt der Ressourcen-Reaktivierung zentrale Bedeutung zu. Hobfoll konnte nachweisen, dass fünf Kriterien für die psychosoziale Versorgung wesentlich sind. Diese müssen auf den jeweiligen Kontext übertragen werden. In den folgenden Ausführungen möchte ich Ihnen dazu einige Denkanstöße geben.
Sicherheit
Nach den möglichen Erfahrungen des Ausgeliefertseins, des Erlebens von Gewalt bis hin zu Todesangst ist das Bedürfnis nach Sicherheit existentiell wichtig. Nur wenn in der neuen Umgebung Sicherheit gewährleistet ist, können Kinder und Jugendliche den Versuch wagen, Vertrauen zu fassen und sich auf die neue Umgebung einzulassen
Sicherheit wird in der Schule unterstützt durch feste Rituale, klare Tagesstrukturen, feste Ansprechpartner, Transparenz im Aufstellen und Einhalten von Regeln, aber auch durch den Schutz vor Gewalt und Übergriffen und sofortige Intervention bei Konflikten.
Kinder und Jugendliche erlangen Sicherheit, wenn wir sie ernst nehmen, zuhören, Gefühle begleiten und helfen, diese in Worte zu fassen. Kinder müssen sich verstanden fühlen und nicht mit ihren Gefühlen alleingelassen sein, da diese sonst noch bedrohlicher werden. Gespräche über schreckliche Erlebnisse dürfen aber nicht provoziert werden.
Traumakonfrontation ist keine Aufgabe für die Schule. Lehrkräfte sollten für Gespräche zur Verfügung stehen – soweit die Sprachbarriere dies zulässt – sich jedoch nicht aufdrängen. Anerkennung und Lob von Seiten der Lehrkräfte für alles, was gelingt, ist hilfreich. Dies kann auch nonverbal und mithilfe von Symbolen erfolgen. Selbstbestimmtheit in der Nähe-Distanz-Regulierung schafft auch Sicherheit bei Schüler/-innen mit Fluchterfahrung.
Verbundenheit
Für die geflüchteten Kinder und Jugendlichen sind natürlich die ukrainischen Erwachsenen die wichtigsten Unterstützer. Sie werden gemeinsam Worte finden und eine gemeinsame Sprache für die Geschehnisse entwickeln müssen. Die Verbundenheit zu diesen Bezugspersonen, deren Stabilität und Bewertung der Situation hat ganz maßgeblichen Einfluss darauf, wie Kinder und Jugendliche die Situation bewältigen.
In der Schule können wertschätzende, berechenbare und verlässliche Beziehungs- und Bindungserfahrungen durch vielfältige positive Begegnungen mit Erwachsenen und Gleichaltrigen zur Stabilisierung beitragen. So sind zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einer festen Gruppe, Solidarität unter Schüler/-innen, Verbindung durch gemeinsame Lernaufgaben, Sport und Musik stabilisierende Maßnahmen.
Ruhe
Das Leben in einer Umgebung, in der man die Sprache (noch) nicht versteht, kann extrem anstrengend und kräftezehrend sein. Zudem werden viele geflüchtete Menschen nachts schlecht schlafen und unter Albträumen leiden.
In der Schule sollten daher Rückzugsmöglichkeiten geschaffen werden. Belastete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine sollten unbedingt die Möglichkeit haben, »sozialen Stress« vermeiden zu können und sich für einen überschaubaren Zeitraum zurückziehen können.
Normalität und Struktur erzeugen und kommunizieren, wo immer dies möglich ist. »Überraschungen«, wie unangekündigte Feueralarme, sollten den Betroffenen erspart bleiben.
Manche geflüchtete Menschen sind zusätzlich zu den schrecklichen Erlebnissen in ihrem Heimatland auf der Flucht zu Opfern von Menschen geworden, die es nicht gut mit ihnen meinten. Es verwundert nicht, dass diese Personen womöglich »den Glauben an die Menschheit« verloren haben und viele gutgemeinte Angebote nicht annehmen können. Das sollte aber die Schule nicht davon abhalten, immer wieder Angebote zu machen und den Betroffenen Zeit zu geben.
Praxis-Tipp: Handlungsempfehlungen für Schulleitungen
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Kommunizieren Sie die dargestellten Kriterien Ihrem Kollegium. Dies gibt Lehrkräften eine gute Orientierung über hilfreiche Maßnahmen und bestärkt sie, auch schon vieles richtig gemacht zu haben.
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Je größer die Herausforderungen an Ihrer Schule sind, desto mehr Entlastung bräuchten die helfenden Lehrkräfte an anderer Stelle. Überlegen Sie sich, inwieweit Sie die Kolleg/-innen entlasten können. Sie setzen damit eine deutliche Botschaft, welchen Stellenwert die psychosoziale Unterstützung der Geflüchteten an Ihrer Schule haben soll.
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Vernetzen Sie die Helfenden regelmäßig. Psychosoziale Unterstützung ist immer eine Teamaufgabe. Schaffen Sie die Möglichkeit eines vertrauensvollen Austausches bei dem die Lösungsorientierung im Vordergrund steht.
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Achten Sie darauf, dass Helfer/-innen nicht überfordert werden. Unterstützen Sie dabei, die eigenen Grenzen anzuerkennen, ohne die Würdigung der geleisteten Hilfe zu schmälern. Realisieren Sie »Helfer-Auszeiten«.
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Dolmetscher sollten angemessen eingesetzt werden und hauptsächlich Sachinformationen übersetzen. Sekundäre Traumatisierung gilt es zu verhindern.
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Stark belastete Kinder und Jugendliche brauchen professionelle Unterstützung. Die zuständige Schulpsychologin bzw. der zuständige Schulpsychologe ist hier als erster Ansprechpartner die fachlich richtige Stelle.
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Nutzen Sie auch professionelle Unterstützung außerhalb Ihrer Schule. Informieren Sie sich bei Bedarf bei der zuständigen Schulberatungsstelle über entsprechende Angebote. Besonnene, zielgerichtete Maßnahmen sind wichtig. Häufig hilft schon eine telefonische Beratung ein Stück weiter.