von Torsten Herbert, Geschäftsführer des KAV NRW
Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen krankheitsbedingten Kündigung.
Der Kläger war bei der Beklagten seit 2001 beschäftigt. 2017 war er an 40 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt, 2018 an 61 Arbeitstagen und 2019 an 103 Arbeitstagen.
Am 05.03.2019 führten die Parteien ein Gespräch zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM). In dem auch vom Kläger unterzeichneten Erhebungsbogen vom selben Tag ist u.a. angegeben, dass kein „zusätzlicher Sachverständiger (z.B. Betriebsarzt, Fachkraft für Arbeitsschutz/Arbeitssicherheit)“ eingebunden werden soll. Der Kläger war in der Zeit danach bis zur Kündigung erneut an 79 Arbeitstagen arbeitsunfähig krank.
Gegen die zum 31.08.2020 ausgesprochene Kündigung hat sich der Kläger mit der vorliegenden Klage gewandt.
Das ArbG hat der Klage stattgegeben.
Das LAG hat die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Deren Revision zum BAG blieb erfolglos.
Entscheidung
Der Senat hat in Fortführung seiner Rechtsprechung für das Verhältnis zwischen BEM und krankheitsbedingter Kündigung einige Grundsätze aufgestellt:
1. Verhältnismäßigkeit einer krankheitsbedingten Kündigung
Eine krankheitsbedingte Kündigung ist dann unverhältnismäßig, wenn es mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger krankheitsbedingter Fehlzeiten gibt.
- Dies können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsplatzes oder die Weiterbeschäftigung auf einem anderen - leidensgerechten - Arbeitsplatz sein.
- Darüber hinaus ist es dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung zu ermöglichen, Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch künftige Fehlzeiten auszuschließen oder zumindest maßgeblich zu verringern.
2. Auswirkungen eines zu Unrecht unterlassenen BEM für die Darlegungs- und Beweislast
War der Arbeitgeber zur Durchführung eines BEM verpflichtet und ist er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, ist er darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass - bezogen auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung - auch ein BEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Krankheitszeiten bzw. der Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten.
3. Erneute Pflicht zur Durchführung eines BEM nach Abschluss des vorherigen BEM
§ 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX begründet eine Pflicht des Arbeitgebers zur Durchführung eines BEM, sobald innerhalb eines Zeitraums von maximal einem Jahr sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit überschritten sind.
- Erkrankt der Arbeitnehmer nach Abschluss eines BEM erneut innerhalb eines Jahres für mehr als sechs Wochen, ist grundsätzlich erneut ein BEM durchzuführen.
- Dies gilt auch dann, wenn nach dem zuvor durchgeführten BEM noch nicht wieder ein Jahr vergangen ist.
4. Darlegungs- und Beweismöglichkeiten des Arbeitgebers bei unterlassenem BEM
Einem Arbeitgeber, der in diesem Fall kein neuerliches BEM angeboten hat, steht die Möglichkeit offen, darzulegen und ggf. zu beweisen, dass auch ein neuerliches BEM schon deshalb kein positives Ergebnis erbracht hätte, weil bereits das vorherige keines ergeben hat und keine relevanten Veränderungen gegenüber dem für den Suchprozess des vorherigen BEM maßgeblichen Stand der Dinge eingetreten sind.
5. Nichtdurchführung eines BEM nur bei objektiver Nutzlosigkeit ohne Belang
Der Arbeitgeber kann unabhängig davon, ob bereits ein zuvor durchgeführtes BEM Rückschlüsse auf die Nutzlosigkeit eines weiteren erlaubt, geltend machen, dass die Durchführung eines (weiteren) BEM keine positiven Ergebnisse hätte zeitigen können.
- Für die objektive Nutzlosigkeit trägt er die Darlegungs- und Beweislast.
- Dazu muss er vortragen, weshalb weder der weitere Einsatz des Arbeitnehmers auf dem bisher innegehabten Arbeitsplatz noch dessen leidensgerechte Anpassung und Veränderung möglich war und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit hätte eingesetzt werden können.
- Darüber hinaus muss er dartun, dass künftige Fehlzeiten auch nicht durch gesetzlich vorgesehene Hilfen oder Leistungen der Rehabilitationsträger in relevantem Umfang hätten vermieden werden können.
Hier:
Im vorliegenden Fall hatte die beklagte Arbeitgeberin nicht dargelegt, dass - bezogen auf den Prognosezeitpunkt des Zugangs der Kündigung - mit Hilfe eines (weiteren) BEM keine milderen Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hätten erkannt oder entwickelt werden können. Die Beklagte war ihrer (sie mangels Durchführung des erneut erforderlich gewordenen BEM treffenden) erweiterten Darlegungslast zur Verhältnismäßigkeit der Beendigungskündigung nicht nachgekommen.
(Quelle: Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG)
Praktische Bedeutung
Das vorstehende Urteil vom 18.11.2021 - 2 AZR 138/21 zeigt die Bedeutung eines BEM für die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Kündigungsschutzprozess auf.
Der Senat entscheidet dabei die spannende Rechtsfrage, ob und binnen welcher Frist der Arbeitgeber nach einem abgeschlossenen BEM vor Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung zunächst erneut ein BEM durchführen muss. Maßgeblich hat der Arbeitgeber dies zu tun, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss des vorherigen BEM erneut länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war.
Der Arbeitgeber kann darlegen und beweisen, dass auch ein neuerliches BEM schon deshalb kein positives Ergebnis erbracht hätte, weil bereits das vorherige keines ergeben hat und inzwischen keine relevanten Veränderungen eingetreten sind.
Arbeitgeber sind gut beraten, ein BEM nach diesen Vorgaben durchzuführen. Anderenfalls liegen die Hürden für eine erfolgversprechende krankheitsbedingte Kündigung noch höher als ohnehin.