Erleichterungen bei Dringlichkeitsvergaben in Ober- und Unterschwelle
Liegen die Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergabe vor, darf der öffentliche Auftraggeber das wettbewerbliche Verfahren erheblich erleichtern und verkürzen.
Verfahrenserleichterungen in der Oberschwelle
Bei Überschreiten der EU-Schwellenwerte, dürfen öffentliche Auftraggeber Leistungen durch ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb (§ 3b Abs. 3 VOB/A-EU; § 17 Abs. 5 VgV; § 13 Abs. 2 Nr. 4 SektVO) beschaffen. Auch bei der Dringlichkeitsvergabe muss der öffentliche Auftraggeber grundsätzlich die Vergabegrundsätze des GWB (u.a. Wettbewerbsprinzip, Transparenz, Gleichbehandlungsgrundsatz) einhalten. Er wird jedoch - je nach Leistungsart - von erheblichen Verfahrensvorgaben befreit.
Sollen Liefer- und Dienstleistungen nach der VgV beschafft werden, muss der öffentliche Auftraggeber nach § 17 Abs. 15 VgV die Vorgaben zur (elektronischen) Kommunikation (§§ 9-13 VgV) sowie die Vorgaben zur Übermittlung, Aufbewahrung und Öffnung von Interessensbekundungen, Angeboten und Teilnahmeanträgen (§§ 53 Abs. 1, 54, 55 VgV) nicht einhalten. Angebote darf der Auftraggeber ohne Bekanntmachung und mit verkürzter, jedoch angemessener Angebotsfrist einholen.
Die Angebotsfrist von 30 Tagen nach § 17 Abs. 6 VgV gilt beim Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nicht. Gerade in Notsituationen berechtigt die Dringlichkeit der Beschaffung von Liefer- und Dienstleistungen sogar eine sehr kurze Angebotsfrist von wenigen bis hin zu 0 Tagen.14
Grundsätzlich muss der öffentliche Auftraggeber auch bei der Dringlichkeitsvergabe so viel Wettbewerb wie möglich schaffen. Sofern die Dringlichkeit der Leistungsbeschaffung es erfordert, darf der Auftraggeber je nach Art der Leistung auch nur einen Bieter zur Angebotsabgabe auffordern.15
Dringliche Bauleistungen dürfen ebenfalls im Wege des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb beschafft werden (§ 3a Abs. 3 Nr. 4 VOB/A-EU). Es erfolgt keine Aufforderung zur Teilnahme am Verfahren (§ 3b Abs. 3 Nr. 4 VOB/A-EU), vielmehr darf sich der öffentliche Auftraggeber direkt an geeignete Unternehmen wenden. Bei der Beschaffung von Bauleistungen dürfen die Angebotsfristen ebenfalls bis auf 10 Tage verkürzt werden (§ 10c Abs. 2 Satz 1 VOB/A-EU).
Verfahrenserleichterungen im Unterschwellenbereich
Auch bei Dringlichkeitsvergaben unterhalb der EU-Schwellenwerte profitiert der öffentliche Auftraggeber von Verfahrenserleichterungen. Liegen die Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergabe vor, dürfen Leistungen im Wege der Verhandlungsvergabe mit oder ohne Teilnahmewettbewerb vergeben werden.
Nach § 12 Abs. 3 UVgO darf der öffentliche Auftraggeber ggf. nur ein Angebot einholen, er darf – muss jedoch nicht – über alle Angebotsinhalte mit Ausnahme der Mindestanforderung der Leistungsbeschreibung und Zuschlagskriterien verhandeln (§ 12 Abs. 4 UVgO). Dabei muss er den Zuschlag auch hier auf das wirtschaftlichste Angebot erteilen.
Bauleistungen unterhalb der EU-Schwellenwerte darf der öffentliche Auftraggeber im Wege der beschränkten Ausschreibung ohne Teilnahmewettbewerb beschaffen, sofern die Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergabe vorliegen (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 VOB/A).
Dabei muss er nach § 3b Abs. 3 VOB/A mehrere Bieter zu Angebotsabgabe auffordern, „im Allgemeinen“ drei. Vertretbar ist jedoch, dass aufgrund der Dringlichkeit weniger als drei Bieter aufgefordert werden dürfen, sofern ein Mindestmaß an Wettbewerb garantiert wird.16 Bei der Beschränkten Ausschreibung soll möglichst unter verschiedenen Unternehmen gewechselt werden (§ 3b Abs. 4 VOB/A).
Anwendbarkeit der Vorschriften der Dringlichkeitsvergaben bei Flutkatastrophen
Im Rahmen der Bekämpfung von COVID-19 machten bereits einige öffentliche Auftraggeber Gebrauch von Dringlichkeitsvergaben. Teilweise lag dabei die hierfür erforderliche Dringlichkeit der Leistung nicht immer vor.17 Die hierzu ergangenen Entscheidungen zeigen deutlich den Ausnahmecharakter der Vorschriften und die engen Anforderungen, die an die Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergaben gestellt werden (müssen).18
Auch bei der Bekämpfung der Folgen der Flutkatastrophe müssen öffentliche Auftraggeber genau abwägen, ob zwingende Gründe im Einzelfall vorliegen, die ihnen die Einhaltung der vergaberechtlichen Vorschriften unmöglich macht, um akute Gefahren abzuwenden. Leistungen, die unmittelbar der Bekämpfung akuter Notlagen in den betroffenen Regionen und den Folgen einer Flutkatastrophe dient, dürfen zweifelsfrei im Wege der Dringlichkeitsvergabe vergeben werden.
Es darf angenommen werden, dass die betroffenen öffentlichen Auftraggeber das Ausmaß der Ereignisse im Juli 2021, welche die Dringlichkeit der Beschaffung verursachten, weder vorhersehen konnten oder gar zu verantworten hatten.
Im Ergebnis steht den öffentlichen Auftraggebern der betroffenen Region somit offen, von den Erleichterungen der Dringlichkeitsvergabe Gebrauch zu machen.
Weitergehende Erleichterungen der Länder im Zuge der Flutkatastrophe 2021
Im Nachgang zur Flutkatastrophe im Juli 2021 schafften sowohl der Bund als auch die betroffenen Bundesländer Klarheit und Erleichterungen für öffentliche Auftraggeber bei der Beschaffung von Leistungen zur Flutfolgenbekämpfung.
Nach dem Rundschreiben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) sowie der Rundschreiben der Bundesländer Rheinland- Pfalz und Nordrhein-Westfalen19 dürfen öffentliche Auftraggeber davon ausgehen, dass die Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergabe aufgrund der Ereignisse im Juli 2021 vorliegen, wenn sie Leistungen, die der kurzfristigen Bewältigung der akuten Auswirkungen der Flut dienen, vereinfacht beschaffen wollen.
Das BMWi zählt solche Leistungen beispielhaft auf (Leistungen zur Absicherung standsicherheitsgefährdeter Bauwerke, Beschaffung von Notstromaggregaten, Schlammsaugern, Bautrocknern, Unterkunftsräumen, Behelfsbrücken).20
Die akut betroffenen Bundesländer befreien öffentliche Auftraggeber noch weitergehend von den Vorgaben des Vergaberechts. Nach dem Runderlass des Landes NRW vom 04.08.2021 sind öffentliche Auftraggeber begrenzt bis zum 31.12.2021 nicht gezwungen, den 1. Abschnitt der VOB/A sowie die UVgO bei der Beschaffung von Leistungen unterhalb der EU-Schwellenwerte anzuwenden, wenn die Leistung der Bekämpfung von Flutfolgen dient. Allein Veröffentlichungs- (§ 20 Abs.3 VOB/A; § 30 UVgO) und Dokumentationspflichten (§ 20 Abs. 1 VOB/A; § 6 UVgO) muss der öffentliche Auftraggeber weiterhin erfüllen.
Das Bundesland Rheinland-Pfalz erlaubt per Rundschreiben in den betroffenen Landkreisen bis Ende 2021 Leistungen ohne förmliches Verfahren direkt zu beschaffen, wenn diese der unmittelbaren Bekämpfung der Flutkatastrophe dienen. Allein die Haushaltsgrundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit müssen eingehalten werden.
Oberhalb der EU-Schwellenwerte sollen öffentliche Auftraggeber von Vergaberechtserleichterungen Gebrauch machen, die bereits bei der Bekämpfung von COVID-1921 angewandt werden.
Fazit
Auch in Krisenzeiten können öffentliche Auftraggeber dringend benötigte Leistungen wirtschaftlich und rechtssicher beschaffen. Das Vergaberecht hält mit den Ausnahmevorschriften zur Dringlichkeitsvergabe die notwenigen Verfahrenserleichterungen bereit. In Fällen, in denen akute Gefahren für Leib und Leben drohen oder die existenzielle Daseinsvorsorge gewährleistet werden soll, dürfen öffentliche Auftraggeber vergaberechtliche Vorgaben auf ein absolutes Minimum begrenzen.
Um öffentliche Auftraggeber auf dem Weg hin zu einer schnellen und rechtssicheren Vergabe Hilfe zu leisten, sind Runderlasse und Hinweise, wie sie die Bundesländer oder der Bund erlassen haben, sinnvoll und notwendig.
Ob das Vergaberecht gänzlich ausgesetzt werden sollte, ist, wie die Bekämpfung von COVID-19 gezeigt hat, eher fraglich. Das Vergaberecht kann hierbei somit Helfer statt Hindernis bei der Flutfolgenbekämpfung sein.
Mit Hilfe der Dringlichkeitsvergabe kann der öffentliche Auftraggeber durch ein erheblich verkürztes wettbewerbliches Verfahren das wirtschaftlichste Angebot für die Leistung ermitteln. Nur so garantiert er eine nachhaltige und zeitnahe Bewältigung der Flutfolgen unter bestmöglichem Einsatz öffentlicher Mittel.