steuerfreier Innenumsaetze
Recht & Verwaltung09 Januar, 2023

EuGH: Umsatzsteuerorganschaft ist EU-rechtskonform, aber kippen steuerfreie Innenumsätze?

Prof. Dr. Christoph Alexander Jacobi, STAPPER | JACOBI | SCHÄDLICH RECHTSANWÄLTE, Fachanwalt für Insolvenz- und Steuerrecht, Honorarprofessor für Unternehmensrestrukturierung an der Universität Leipzig

EuGH lässt deutsche Umsatzsteuerorganschaft bestehen – Kippt der Gerichtshof mit seiner Entscheidung zugleich das Konstrukt der steuerfreien Innenumsätze?

Der EuGH hat am 01.12.2022 zu den Vorlagefragen der XI. und des V. Senats des BFH zu Kernfragen der deutschen Umsatzsteuerorganschaft entschieden; EuGH v. 01.12.2022, Rs. C-141/20 (Finanzamt Kiel gegen Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH zu BFH v. 11.12.2019 – XI R 16/18) und EuGH v. 01.12.2022, Rs. C-269/20 (Finanzamt T gegen S zu BFH v. 07.05.2020 – V R 40/19). Die zentrale Aussage des EuGH: § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG bestimmt den Organträger zulässigerweise zum Steuerschuldner.

Anfang des Jahres 2022 deutete sich mit den Schlussanträgen der zuständigen Generalanwältin beim EuGH in den Rechtssachen C-141/20 sowie C-269/20 ein umsatzsteuerlicher Paradigmenwechsel im Hinblick auf die umsatzsteuerliche Organschaft in Deutschland nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG an. Nach der klaren Verlautbarung von Generalanwältin Laila Medina zu beiden Rechtssachen stehe das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegen, wonach nur die herrschende Gesellschaft der Mehrwertsteuergruppe (Organträger) als der Steuerpflichtige angesehen werden kann, während die anderen Mitglieder der Gruppe nicht steuerpflichtig wären. Diese Feststellung hätte zur Unionswidrigkeit der nationalen Reglung im Umsatzsteuergesetz geführt, mit der Folgen, dass erhebliche Umsatzsteuerrückzahlungen in Milliardenhöhe an die Unternehmen veranlasst gewesen wären. Die Aufregung nach den Schlussanträgen von Medina war groß. 

Doch es kam anders und – eher die Ausnahme – der EuGH widersprach den Grundpositionen der Generalanwältin mit seinen Urteilen C-141/20 und C-269/20 vom 01.12.2022 und zwar in mehrfacher Hinsicht.

Umsatzsteuerrechtliche Ausgangspunkte

Am 01. Dezember 2022 entschied der EuGH über die Rechtsfolgen der umsatzsteuerlichen Organschaft. Gegenstand der Vorlagefragen und der Schlussanträge von Medina waren auch die bislang umsatzsteuerfreien Innenumsätze einer Umsatzsteuerorganschaft. In den Vorlagefragen des BFH ging es aber insbesondere um die Frage, ob die deutsche Regelung zur umsatzsteuerlichen Organschaft in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG und zur Bestimmung des Organträgers als Steuerschuldner unionsrechtskonform ist oder nicht. Die Schlussanträge von Generalanwältin Medina in den Verfahren gingen explizit davon aus, dass eine Neuregelung des nationalen deutschen Rechts notwendig sei.
Gemäß Artikel 11 MwStSystRL werden zivilrechtlich unabhängige Personen zusammen als ein Steuerpflichtiger behandelt. Dabei ist zu beachten, dass die „Behandlung als ein Steuerpflichtiger“, wie nun vom EuGH bestätigt, im Sinne der Entstehung eines neuen Steuerpflichtigen zu verstehen ist. Die umsatzsteuerlich entstandene Mehrwertsteuergruppe hat daher die gleichen Rechte und Pflichten wie jeder andere Steuerpflichtige gemäß Artikel 9 MwStSystRL.
Die Senate des BFH (XI. und V. Senat) beziehen sich in ihren Vorlagefragen unter anderem auf die bisherige Rechtsprechung des EuGH. Danach sei aus der EuGH-Rechtsprechung zu folgern, dass die Mehrwertsteuergruppe selbst zwingend als „der Steuerpflichtige“ anzusehen ist. Es wird etwa auf das EuGH-Urteil in der Rechtssache Skandia America verwiesen, nach dem die Mehrwertsteuergruppe, falls eine solche besteht, die Umsatzsteuer schuldet (vgl. EuGH vom 17.09.2014, Rs. C-7/13). Zudem wird auf die Überlegungen der Europäischen Kommission hingewiesen, die als Rechtsfolge des Artikels 11 MwStSystRL eine fiktive „neu geschaffene“ Mehrwertsteuergruppe mit einem neu bzw. fiktiv geschaffenen Steuerpflichtigen annimmt. Letztlich ändert sich nach EU-Recht gegenüber dem deutschen also die Art der Eingliederung und die Person des Steuerpflichtigen; die EU-rechtliche Mehrwertsteuergruppe ist eine fiktive Institution oder steuerpragmatisch heruntergebrochen: Es wird eine neue Steuernummer vergeben, unter der die Umsatzsteuern der Gruppe abzuführen sind.

Für das deutsche Recht ist für die Annahme einer umsatzsteuerlichen Organschaft i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG grundsätzlich erforderlich, dass ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen dem Organträger und der Organgesellschaft als „untergeordneter Person“ besteht, während unionsrechtlich eine Mehrwertsteuergruppe nach Artikel 11 MwStSystRL bereits bei „enger Verbindung“ (auch „gleichrangig“) zwischen den Gruppenmitgliedern entsteht.

Die EuGH-Urteile vom 01.12.2022: Grundsätze und aktuelle Einordnung

Beide Urteile C-141/20 und C-269/20 beziehen sich auf Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 der EG, die ab 01.01.2007 von der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL) der EU abgelöst wurde. Allerdings sind die Urteilsgrundsätze auf die heutige Fassung der umsatzsteuerlichen Regelung zur Organschaft nach nationalem Recht zu übertragen.


Ein Mitgliedstaat darf den Organträger zum Steuerpflichtigen bestimmen

Entgegen den Ausführungen der Generalanwältin in den beiden Vorlageverfahren und entgegen bisheriger Ausführungen in Entscheidungen des EuGH sieht der Gerichtshof in der deutschen Regelung keinen Verstoß gegen das EU-Recht, da die Organgesellschaften über § 73 AO für ihre Umsatzsteuerschulden haften und daher keine Steuerausfälle für den Fiskus drohen. Auch kann der Organträger aufgrund der erforderlichen Eingliederung nach deutschem Recht seinen Willen in den Organgesellschaften durchsetzen, was eine Erhebung der Umsatzsteuer ermöglicht. Unter diesen Voraussetzungen ist es aus Sicht des EuGH zulässig, ein Mitglied des Organkreises bzw. der Mehrwertsteuergruppe oder im deutschen Sprachgebrauch: der Organschaft als Steuerschuldner für die Umsatzsteuern des gesamten Organkreises zu bestimmen; im Wortlaut des EuGH:

„Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2000/65 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, den Organträger dieser Gruppe zu bestimmen, wenn dieser in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.“

Im Ergebnis sind daher die Steuerfestsetzungen gegen den Organträger rechtmäßig und dieser hat keinen Anspruch auf Erstattung der von ihm entrichteten Umsatzsteuern. Die befürchteten Steuerrückforderungen in Milliardenhöhe bleiben somit aus.

Reformbedürftigkeit der Organschaft 

Auch wenn die EuGH-Urteile die deutsche Organschaft im Kern bestätigen, wird die Organschaft gleichwohl in ihren Details vom deutschen Gesetzgeber zu überarbeiten sein.
Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Eingliederungsvoraussetzungen. Denn der EuGH weist erneut und deutlich darauf hin, dass ein Abstellen auf ein Über- und Unterordnungsverhältnis nicht dem EU-Recht entspricht. Vielmehr muss grundsätzlich auch eine Organschaft zwischen Schwestergesellschaften möglich sein. Hierzu muss die deutsche Organschaft in ihren Voraussetzungen jedoch umgestaltet werden und es muss dann festgelegt werden, wer Steuerschuldner ist, nämlich nach dem EuGH eigentlich die Mehrwertsteuergruppe selbst mit eigener und für die Gruppe einziger Steuernummer; auch wenn aktuell der Organträger unter den genannten Voraussetzungen als Steuerpflichtiger „toleriert“ wird. Die deutsche Praxis, wonach jeder Teil des Organkreises eine eigene USt-Id-Nummer erhält und eine eigene Zusammenfassende Meldung abgeben muss (§ 18a Abs. 5 S. 4 UStG; § 27a Abs. 1 S. 3 UStG), wird daher keine Zukunft haben.

Weiter stellt der EuGH fest, dass es für die finanzielle Eingliederung allein auf eine Mehrheitsbeteiligung ankommt. Nicht erforderlich ist hingegen eine Stimmmehrheit des Organträgers. Dementsprechend kann eine finanzielle Eingliederung der Organgesellschaft in das umsatzsteuerliche Unternehmen des Organträgers bereits gegeben sein, wenn der Organträger eine Mehrheit der Anteile an der Organgesellschaft hält ohne auch eine Stimmrechtsmehrheit hinter sich zu haben. Die auf BFH-Rechtsprechung zurückgehende Verwaltungsauffassung hierzu (Abschn. 2.8 Abs. 5 S. 2 Umsatzsteueranwendungserlass (UStAE)), dass für eine finanzielle Eingliederung eine Anteilsmehrheit von über 50 % bzw. Stimmrechtsmehrheit vorliegen müsse, wäre somit nicht mehr haltbar. Wie Stimmvereinbarungen ausgestaltet sind, ist dann unbeachtlich.
Einer weiteren Entwicklung bedarf dieses Postulat der ausreichenden Mehrheitsbeteiligung in Unabhängigkeit von Stimmvereinbarungen, da sich mindestens leiser Widerspruch zu der weiteren Voraussetzung des EuGH aufzeigt, wonach der Organträger in der Lage sein muss, seinen Willen bei anderen Mitgliedern der Mehrwertsteuergruppe durchzusetzen und der gerichtliche Hinweis auf § 73 AO (Haftung bei Organschaft) kaum dieses Durchsetzungsvermögen begründet.

Kippt das Konstrukt der steuerfreien Innenumsätze?

Offen lässt der EuGH, ob Innenleistungen im Organkreis – wie bislang von Finanzverwaltung und Rechtsprechung angenommen – nicht steuerbar sind. Zwar stellt der EuGH unmissverständlich fest, dass Organgesellschaften weiterhin selbständig eine unternehmerische Tätigkeit ausüben – und folgt zumindest insoweit den Ausführungen der Generalanwältin. Lediglich für Zwecke der Steueranmeldung und -abführung erfolgt eine Zusammenfassung als Organkreis. Somit sind aus Sicht des EuGH auch entgeltliche Leistungen zwischen Organträger und Organgesellschaft möglich. Allerdings bleibt dann offen, ob dies zwingend dahingehend zu verstehen sei, dass auch Leistungen im Organkreis der Besteuerung unterliegen. Eine dahingehende klare Aussage in den Urteilen in die eine oder andere Richtung fehlt.

Kippt das deutsche Konstrukt der steuerfreien Innenumsätze, droht vor allem bürokratischer Aufwand: Hätte bei steuerpflichtigen Innenumsätzen der Organträger die aus diesen Umsätzen entstehende Umsatzsteuer für die jeweilige Organgesellschaft anzumelden und abzuführen? Und würde der Organträger gleichzeitig, wenn die Organgesellschaft an ihn geleistet hat, entsprechende Vorsteuer bei der Steueranmeldung für die Organschaft in Abzug bringen? Dies würde vom Steueraufkommen her eine sinnfreie Aufblähung von, sich im Ergebnis neutralisierenden, Eingangs- und Ausgangsumsätzen bedeuten.

Was folgt: BFH-Entscheidungen, gesetzliche Überarbeitung der Organschaft, Anpassung der Finanzverwaltung

Im Anschluss an die Entscheidungen des EuGH v. 01.12.2022 wird der XI. und der V. Senat des BFH seine bis zur EuGH-Entscheidung ausgesetzten Verfahren wieder aufnehmen. Nennenswerte Abweichungen zur Argumentation des EuGH sind hierbei nicht zu erwarten. Gleichwohl wird für die steuerliche Praxis entscheidend sein, wie der BFH zur weiteren Anwendung des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG im Detail entscheidet und wie sich der BFH zur Frage der bislang steuerfreien Innenumsätze positioniert. Und vor allem werden erst im Nachgang dazu die Unternehmen abwarten müssen, wie der nationale Gesetzgeber und die deutsche Finanzverwaltung auf die neuen Urteile reagieren werden.

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