von Torsten Herbert, Rechtsanwalt und Geschäftsführer des kommunalen Arbeitgeberverbands NRW
LAG Köln klärt, dass eine außerhalb der Kernarbeitszeit, jedoch noch innerhalb des Gleitzeitrahmens bei der Schwerbehindertenvertretung eingegangene Anhörung zur Probezeitkündigung noch am selben Tag zugegangen ist.
Sachverhalt
Die Parteien streiten im Rahmen eines Kündigungsverfahrens über die ordnungsgemäße Beteiligung der Gesamtschwerbehindertenvertretung.
Die Beklagte hörte mit Schreiben vom 23.04.2020 die Gesamtschwerbehindertenvertretung (GSBV) zur beabsichtigten Probezeitkündigung des Klägers an. Die Anhörung ging am Donnerstag, dem 30.04.2020, gegen 16:05 Uhr per Telefax (Papierfax) im Büro des Gremiums ein. Der nächste Werktag fiel auf den arbeitsfreien 01.05.2020, einen Freitag.
Bei der Beklagten besteht nach einer Dienstvereinbarung zur gleitenden Arbeitszeit (GLAZ) eine Kernarbeitszeit für die Wochentage Montag bis Donnerstag zwischen 9:00 Uhr und 12:00 Uhr sowie 14:00 Uhr und 15:00 Uhr. Freitags beginnt die Kernarbeitszeit um 9:00 Uhr und endet um 12:00 Uhr. Innerhalb der Kernarbeitszeit besteht Anwesenheitspflicht für die Beschäftigten. Der Gleitzeitrahmen erstreckt sich für Tarifbeschäftigte donnerstags bis 16:25 Uhr.
Mit Schreiben vom 08.05.2020, dem Kläger am 12.05.2020 zugegangen, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31.05.2020.
Der Kläger meint, der gewöhnliche Zugang der schriftlichen Anhörung bei der Schwerbehindertenvertretung richte sich nach den Kernarbeitszeiten. Daher habe am 30.04.2020 nach 15:00 Uhr kein Zugang mehr bewirkt werden können. Der eigentliche Zugang sei damit erst am Montag, dem 04.05.2020, erfolgt, wodurch die Wochenfrist zur Stellungnahme der GSBV nicht gewahrt gewesen sei. Die Kündigung sei daher unwirksam.
Das Arbeitsgericht Köln hat die Klage abgewiesen.
Die Berufung des Klägers zum Landesarbeitsgericht Köln blieb ohne Erfolg.
Entscheidung
Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen oder eines nach § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellten Menschen mit Behinderungen, die der Arbeitgeber ohne (ordnungsgemäße) Beteiligung der zuständigen Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ausspricht, ist zwar gemäß § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX unwirksam. Die vorliegende Beteiligung unterliegt aber keinen rechtlichen Bedenken.
Hinsichtlich der Stellungnahmefristen enthält das SGB IX seit Einführung der Unwirksamkeitsfolge des § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX eine planwidrige Regelungslücke, die durch eine analoge Anwendung von § 102 Abs. 2 BetrVG i.V.m. §§ 187 ff. BGB zu schließen ist. In Bezug auf die Berechnung der Wochenfrist zur Stellungnahme ist auf den Zugang der Anhörung bei der zuständigen Schwerbehindertenvertretung – hier GSBV – in entsprechender Anwendung des § 130 BGB abzustellen. Ein Zugang einer unter Abwesenden zugegangenen schriftlichen Willenserklärung ist bewirkt, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die Gewalt des Empfängers oder eines empfangsberechtigten Dritten gelangt ist und für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, vom Inhalt des Schreibens Kenntnis zu nehmen. Dabei ist auf die vom Empfänger getroffenen Empfangsvorkehrungen abzustellen. Per Telefax gelangt eine Erklärung mit Abschluss des Druckvorgangs am Empfangsgerät in den Machtbereich des Empfängers.
Hinsichtlich des Zeitpunkts der Kenntnisnahme ist darauf abzustellen, wann sich der Empfänger nach den Gepflogenheiten der Verkehrsanschauung Kenntnis vom Inhalt der Erklärung verschaffen kann. Hierbei sind im öffentlichen Dienst die üblichen Dienstzeiten der Behörde zu beachten.
Wird die Erklärung in ein für die Interessenvertretung bestehendes Postfach hinterlegt, zu dem (z.B. nach Dienstschluss) nicht mehr mit der Leerung am selben Tag gerechnet werden kann, geht die Mitteilung der Interessenvertretung erst am Folgetag zu. Da das Anhörungsschreiben vorliegend am 30.04.2020 aber bereits gegen 16:05 Uhr per ausgedrucktem Telefax im Geschäftszimmer der GSBV vorgelegen hat, ist dieses noch am selben Tag in deren Machtbereich gelangt.
Die Anwesenheitszeiten der DV GLAZ unterscheiden nicht danach, ob die Beschäftigten der GSBV angehören. Für die Mitglieder der GSBV gilt daher dem Grunde nach diejenige Dienstpflicht, die der Arbeitspflicht der übrigen Beschäftigten entspricht.
Nach den normalen Verhältnissen des Geschäftsverkehrs einer Behörde ist die Möglichkeit der Kenntnisnahme nicht auf die Kernarbeitszeit beschränkt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass üblicherweise im Rahmen der Dienstzeiten die Beklagte durch ihre Beschäftigten von einer rechtlich relevanten Erklärung Kenntnis nehmen kann. Zwar ist in diesen Zeiten nicht die Anwesenheit eines jeden Beschäftigten garantiert, jedoch ist unter gewöhnlichen Umständen davon auszugehen, dass die Behörde im Rahmen der vorgegebenen Dienstzeiten funktionsfähig und in der Lage ist, eingehende Erklärungen zur Kenntnis zu nehmen.
Es bestand damit am 30.04.2020 jedenfalls bis 16:25 Uhr unter Zugrundelegung der Verkehrsanschauung aus objektiver Sicht für die GSBV die Möglichkeit der Kenntnisnahme, so dass der Zugang des Anhörungsschreibens noch am 30.04.2020 bewirkt worden ist.
Die Revision wurde nicht zugelassen. Es besteht lediglich die Möglichkeit einer Revisionsnichtzulassungsbeschwerde.
Praktische Bedeutung
Die vorstehende Entscheidung des LAG Köln, Urteil vom 30.03.2022 - 11 Sa 786/21 - ist zu begrüßen, denn sie schafft – soweit zu beteiligende Gremien einer Gleitzeitregelung unterliegen – für den Arbeitgeber in zeitlicher Hinsicht Rechtssicherheit hinsichtlich der Zustellung von Beteiligungsschreiben.
Es ist davon auszugehen, dass die vom LAG vertretene Rechtsauffassung auch für die Beteiligung von Personalrat und Betriebsrat gilt.
Die Bedeutung der Sichtweise des LAG liegt auf der Hand:
Die vorliegend entschiedene Fallkonstellation bot die Besonderheit, da der auf den 30.04.2020 folgende nächste Tag auf einen arbeitsfreien Freitag vor dem sich anschließenden Wochenende fiel, dass bei unwirksamer Zustellung am 30.04.2020 der Fristlauf sogar erst am 04.05.2020 hätte beginnen und die Kündigung erst entsprechend später hätte ausgesprochen werden können.
Solche Fristen sollten allerdings arbeitgeberseits nur in Notfällen ausgereizt werden – es sollte eine Zustellung des Anhörungsschreibens daher, wenn schon am letztmöglichen Tag, vorsorglich noch während der Kernarbeitszeiten erfolgen.