EU-Schwellenwerte
Recht & Verwaltung17 Januar, 2022

Rechtsschutzmöglichkeiten unterhalb der EU-Schwellenwerte

Oberhalb der EU-Schwellenwerte können Bieter, die sich in einem Vergabeverfahren benachteiligt sehen, einen Nachprüfungsantrag bei der zuständigen Vergabekammer einreichen. Doch welche Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen für Bieter unterhalb der EU-Schwellenwerte?

RA Henning Feldmann

Bisher kein Primärrechtsschutz und keine Pflicht zur Vorabinformation unterhalb der EU-Schwellenwerte

Über 90 % aller durchgeführten Vergabeverfahren in Deutschland betreffen Auftragswerte unterhalb der EU-Schwellenwerte. Daher hat die Frage nach den bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten in diesem Bereich auf der einen Seite überaus große Praxisrelevanz, denn diese Frage betrifft auch die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze. Andererseits geht es um die Funktionsfähigkeit des Staates und die Effektivität seiner Aufgabenerfüllung, wenn Auftragsvergaben durch Klageverfahren o.ä. verzögert werden.

Dies hat auch der (EU)-Gesetzgeber erkannt und gewährt dem zweitgenannten Aspekt den Vorzug. Das Nachprüfungsverfahren der §§ 155 ff. GWB ist somit auf Vergaben oberhalb der maßgeblichen EU-Schwellenwerte beschränkt. Im Jahr 2006 hat das Bundesverfassungsgericht (13. Juni 2006, 1 BvR 1160/03) es ausdrücklich als verfassungsgemäß bewertet, dass das vergaberechtliche Nachprüfungsverfahren öffentlicher Aufträge auf den Bereich oberhalb der EU-Schwellenwerte beschränkt ist und bleibt.

Insbesondere einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG hat das BVerfG abgelehnt und hierfür darauf verwiesen, dass es im gesetzgeberischen Ermessen liege, die Bieter bei Vergabeverfahren unterhalb der EU-Schwellenwerte auf die „allgemeinen“ prozessualen Instrumente wie Schadensersatzklage und insbesondere das Verfahren der einstweiligen Verfügung zu verweisen.

Auch eine Vorabinformationspflicht vergleichbar dem § 134 GWB besteht bei Vergabeverfahren unterhalb der EU-Schwellenwerte nicht. Zwar hatte das Oberlandesgericht Düsseldorf in einem seinerzeit vieldiskutierten Beschluss vom 13. Dezember 2017 (27 U 25/17) eine Verpflichtung zur Vorabinformation auch unterhalb der EU-Schwellenwerte gesehen. Diese resultierte, so das OLG Düsseldorf damals, zwar weder aus den einschlägigen Regelungen des Vergaberechts selbst, wohl aber - allgemein gesagt - aus dem Prinzip des effektiven Rechtsschutzes.

Das OLG Düsseldorf zog hierfür vergleichbare Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und der Verwaltungsgerichte etwa zur Pflicht zur vorhergehenden Unterrichtung abgelehnter Bewerber bei Beamten- oder Richterbeförderungen heran. Ein Vertrag, der ohne vorherige Vorabinformation vergleichbar § 134 GWB abgeschlossen werde, könne hiernach nach § 134 GWB nichtig sein.

In der vergaberechtlichen Rechtsprechung hat sich diese Auffassung - so bieterfreundlich sie auch sein mag - nicht durchgesetzt. Sowohl das OLG Celle (Urt. v. 9. Januar 2020, 13 W 56/19) als auch das KG Berlin (Urt. v. 07. Januar 2020, 9 U 79/19) lehnen eine Vorabinformationspflicht unterhalb der EU-Schwellenwerte ab. Unterhalb der EU-Schwellenwerte gibt es somit grundsätzlich kein geordnetes speziell vergaberechtliches Rechtsschutzverfahren und keine Pflicht zur Vorabinformation.

Aber kann es vor diesem Hintergrund wirklich sein, dass jeder Bauauftrag über 5 Millionen Euro an den Schwager des Oberbürgermeisters vergeben werden kann, ohne dass Bieter die Gelegenheit haben, sich hiergegen zu wehren und erst im Nachhinein davon erfahren, dass ein Auftrag vergeben worden ist? Die Antwort lautet: Nein!

Auch unterhalb der EU-Schwellenwerte bestehen Rechtsschutzmöglichkeiten

Bereits früh haben die Gerichte festgestellt, dass es mit dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch nicht zu vereinbaren ist, Bieter in Vergabeverfahren, die eine Benachteiligung geltend machen, lediglich auf Inanspruchnahme von Sekundärrechtsschutz wie etwa Schadensersatz zu verweisen. Vielmehr müssen Bieter die Möglichkeit haben, Primärrechtsschutz zu erlangen und die Zuschlagserteilung an einen Mitbewerber zu verhindern.

Denn wenn ein Zuschlag einmal erteilt ist, kann dieser - von sehr wenigen Ausnahmefällen wie z.B. einer Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB wegen eines vorsätzlichen und kollusiven Zusammenwirkens zwischen Auftraggeber und einem Mitbewerber zum Nachteil des betreffenden Bieters abgesehen - nicht mehr aufgehoben werden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in der o.g. Entscheidung insoweit festgestellt, dass ein Unternehmen, welches unterhalb der Schwellenwerte gegen eine Vergabeentscheidung vorgehen will, auf „die allgemeinen Rechtsschutzmöglichkeiten“ verwiesen ist.

Doch was sind die „allgemeinen Rechtsschutzmöglichkeiten“?

Das Mittel der Wahl, um in einem Vergabeverfahren die Zuschlagserteilung zu verhindern, Benachteiligungen oder Vergaberechtsverstöße geltend zu machen und die Chance auf den Zuschlagserhalt zu wahren, ist letztlich das allgemeine einstweilige Verfügungsverfahren der Zivilprozessordnung, konkret der Antrag auf Erlass einer Sicherungsverfügung nach § 935 ZPO.

Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung (vgl. etwa LG Bielefeld, Urt. v. 27. Februar 2014, 1 O 23/14 und KG Berlin, Urt. v. 7. Januar 2020, 9 U 79/19). Zuständig sind die Zivilgerichte (§ 13 GVG). Durch eine einstweilige Verfügung eines Gerichts kann das Vergabeverfahren einstweilen gestoppt und die Zuschlagserteilung verhindert werden, während Bieter die geltend gemachten Vergaberechtsverstöße gerichtlich überprüfen lassen.

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Informationsdefizit und Zeitproblem beim Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung

Aber es bestehen ein Informationsdefizit und ein Zeitproblem! Weil es unterhalb der EU-Schwellenwerte im Grundsatz keine gesetzlich normierte Pflicht zur Vorabinformation gibt, sind Bieter entweder darauf angewiesen, dass der Auftraggeber sie freiwillig darüber informiert, dass ihr Angebot den Zuschlag nicht erhalten soll, oder dass sie auf sonstige Weise hiervon Kenntnis erlangen.

Wenn Bieter von der beabsichtigten Auftragsvergabe an einen Wettbewerber erfahren, ist beim Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung schnelles Handeln daher essentiell. Denn die einstweilige Verfügung muss vom Gericht erlassen und dem Auftraggeber zugestellt werden, bevor der Zuschlag erteilt ist. Weil man beim Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung durchaus mit ein bis zwei Wochen rechnen muss, kommen Bieter hiermit in der Praxis häufig zu spät.

Geordnetes vergaberechtliches Nachprüfungsverfahren in einzelnen Bundesländern

Dass es nicht in der Hand der Bieter liegt, ob sie vor Zuschlagserteilung an einen Wettbewerber hiervon Kenntnis erlangen, ist eine unbefriedigende Situation, der in einzelnen Bundesländern nunmehr abgeholfen worden ist. Einzelne Bundesländer haben in den letzten Jahren ab Erreichen bestimmter Bagatellgrenzen (zwischen 50.000,00 Euro und 75.000,00 Euro für Liefer- und Dienstleistungen und zwischen 75.000,00 Euro und 150.000,00 Euro für Bauleistungen) ein geordnetes vergaberechtliches Nachprüfungsverfahren auch für den Unterschwellenbereich in ihren Landesvergabegesetzen eingeführt, und zwar

  • Thüringen in § 19 ThürVgG,
  • Sachsen-Anhalt in § 19 LVG LSA,
  • Sachsen in § 8 SächsVG und
  • Rheinland-Pfalz in der Landesverordnung über die Nachprüfung von Vergabeverfahren.

Der Ablauf dieser „Nachprüfungsverfahren light“ ist im Grundsatz identisch: Für Auftraggeber besteht - vergleichbar mit § 134 GWB oberhalb der EU-Schwellenwerte - zunächst eine Pflicht zur Vorabinformation und eine einzuhaltende Wartefrist (je nach Bundesland zwischen 7 und 10 Tagen), in der der Zuschlag nicht erteilt werden darf. In dieser Zeit muss der Bieter die beabsichtigte Nichtberücksichtigung seines Angebots beanstanden. Hilft der Auftraggeber dieser Beanstandung nicht ab, muss er die Beanstandung und die vollständigen Vergabeunterlagen der Prüfbehörde vorlegen.

Die Prüfbehörde prüft die Beanstandung des Bieters innerhalb einer vorgegebenen Frist von 10 Tagen bis 4 Wochen. Bereits dies verschafft den Bietern ausreichend Zeit, um den Erlass einer einstweiligen Verfügung zu beantragen. Das Zuschlagsverbot endet automatisch nach Ablauf der Prüffrist, wenn die Prüfbehörde das Verfahren nicht beanstandet. Wenn die Prüfbehörde das Verfahren beanstandet, muss die Vergabestelle die Entscheidung umsetzen. Ansonsten kann der Zuschlag erteilt werden.

Niedersachsen (§ 16 NTVergG) und Mecklenburg-Vorpommern (§ 12 VgG M-V) sehen eine Pflicht zur Vorabinformation und eine Wartefrist von 10 bzw. 7 Tagen von vor, aber kein geordnetes Rechtsschutzverfahren. In diesen Bundesländern müssen Bieter daher zwangsläufig den Weg des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wählen, um ihre Rechte zu wahren.

Situation in den anderen Bundesländern

In den anderen Bundesländern existiert Stand jetzt keine gesetzlich normierte Wartefrist und kein förmliches Rechtsschutzverfahren. Hier bestehen für Bieter daher die eingangs beschriebenen Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten, d.h. das Informationsdefizit und das Zeitproblem, wenn sie bei behaupteten Vergaberechtsverstößen die Zuschlagserteilung an einen Dritten noch verhindern wollen.

Besonderheit bei Bauvergaben: „VOB-Prüfstellen“

Eine Besonderheit besteht bei Bauvergaben. Hier besteht nach § 21 VOB/A die Möglichkeit, ein Prüfverfahren bei der „VOB-Prüfstelle“ des entsprechenden Landes zu beantragen. Auch die VOB-Prüfstelle kann behauptete Vergaberechtsverstöße prüfen, gegenüber dem Auftraggeber rügen und die Einhaltung des Vergaberechts überwachen.

Da die VOB-Prüfstellen (abhängig von der jeweiligen Landesorganisation) in der Regel im Rahmen der Fach- oder Rechtsaufsicht tätig werden, bestehen Kontroll- und Weisungsbefugnisse. Es besteht daher die Möglichkeit, dass die VOB-Prüfstelle den Auftraggeber zu einem bestimmten Verhalten - etwa einer Überarbeitung der Vergabeunterlagen und einer Rückversetzung in den Stand vor Angebotsabgabe – anweist und ihm aufgibt, eine vorherige Zuschlagserteilung zu unterlassen.

Doch handelt es sich hierbei um eine reine verwaltungsinterne Kontrolle. Auch steht die Frage, ob und wie eine Prüfstelle überhaupt tätig wird, in ihrem Ermessen. Bieter haben daher keinen Anspruch auf Tätigwerden der VOB-Prüfstellen. Vor allem aber wird die Zuschlagserteilung durch die Einschaltung der VOB-Prüfstelle nicht gehindert. Die Anrufung der VOB-Prüfstelle ersetzt die Notwendigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung daher nicht. Beides muss parallel erfolgen.

Rügepflicht?

Im Grundsatz besteht bei Vergabeverfahren unterhalb der EU-Schwellenwerte keine gesetzlich normierte Rügepflicht, bevor ein Bieter den Weg gerichtliche Hilfe in Anspruch nimmt. Doch haben einzelne Gerichte eine solche aus dem vorvertraglichen Schuldverhältnis nach § § 311 BGB und der Pflicht zur Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) abgeleitet und Bietern (vergleichbar mit § 160 GWB) die Obliegenheit auferlegt, einen behaupteten Vergaberechtsverstoß vorher beim Auftraggeber zu rügen. Es ist daher in jedem Fall zu empfehlen, dass Bieter ihre Beanstandung vorher beim Auftraggeber im Wege einer Rüge platzieren und Abhilfe fordern.

Fazit

In den Bundesländern Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Rheinland-Pfalz, die ein spezielles Nachprüfungsverfahren im Bereich unterhalb der EU-Schwellenwerte etabliert haben, bestehen effektive, spezielle und schnelle Rechtsschutzmöglichkeiten für Bieter, die eine Benachteiligung im Vergabeverfahren geltend machen wollen.

Auch außerhalb dieser Bundesländer sind Bieter nicht schutzlos gestellt, müssen allerdings den „Umweg“ über die Zivilgerichte gehen und eine einstweilige Verfügung beantragen. Hierbei bestehen Unwägbarkeiten, wenn und weil die Bieter vor einer Auftragsvergabe an einen Wettbewerber hierüber nicht informiert werden und schnell handeln müssen.

Es hängt daher leider de facto vielfach vom Glück oder dem Auftraggeber selbst ab, ob dieser den Bieter vor einer Auftragsvergabe an einen Wettbewerber hierüber unterrichtet und ob Bieter die Möglichkeit haben, eine Auftragsvergabe an einen Wettbewerber noch zu verhindern.

Bildnachweis: tippapatt/stock.adobe.com
Henning Feldmann
Fachanwalt für Vergaberecht bei ESCH BAHNER LISCH Rechtsanwälte PartmbB in Köln
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